Die Schmetterlingsinsel
Sie wachsen hier förmlich auf Bäumen!«
»Das heißt aber noch lange nicht, dass es alles sehr kostbare Exemplare sein müssen. Wie du bei Mr Norris sicher gelernt hast, gibt es auch Halbedelsteine.«
Es war kein Geheimnis, dass Victorias Hauslehrer, der in einigen Tagen ebenfalls hier ankommen würde, eine Schwäche für die Mineralogie hatte.
»Du solltest ihm den Brocken zeigen.« Grace legte den Stein wieder in die Hände ihrer Schwester.
»Brocken?«, ereiferte sich Victoria. »Das hier ist vielleicht wertvoller als alles, was Vater auf der Plantage vorfinden wird! Dieser Stein, geliebte Schwester, könnte mich zu einer der begehrtesten Partien in ganz England machen!«
»Glaubst du nicht, dass solche großen Steine schon längst die Krone unserer Königin zieren würden, wenn sie echt wären?«
»Wer sagt denn, dass sie sich jeden Stein von außergewöhnlicher Größe liefern lässt? Einiges werden die Edelsteinschürfer hier schon beiseiteschaffen, um es an die Besucher aus aller Welt zu verkaufen.«
»Und das für zehn Rupien?«
Als ihre Zimmertür aufsprang, endete der Streit für einen Moment.
»Miss Giles!«, rief Grace verwundert, denn Victorias Kindermädchen war vollkommen außer Atem und presste sich die Hand auf den vom Korsett beinahe unmöglich stark eingeschnürten Bauch. »Was ist passiert?«
»Es geht los!«, keuchte sie, als hätte sie sämtliche Treppen des Grand Oriental Hotel im Laufschritt hinter sich gebracht. In Wirklichkeit war es aber die Hitze, an die sich die junge Gouvernante nicht so recht gewöhnen konnte. »Ihre Mutter informierte mich gerade darüber, dass wir abreisen werden. Sie sollten Ihr Handgepäck bereitmachen, ich werde mich um Ihre Kleider kümmern.«
Geschäftig eilte sie zu der Chaiselongue, über die die Morgenmäntel und Nachmittagskleider der Schwestern drapiert waren. Dabei vergaß sie sich, wie immer, wenn sie in Eile war, und begann ein Lied zu summen, mit dem sie sich wahrscheinlich selbst antreiben wollte.
»Wenn sie sich weiterhin so fest schnürt, wird sie noch umkippen«, flüsterte Victoria, die Gelegenheit ausnutzend, Grace respektlos zu. Die Ältere schlug die Hand vor den Mund, um ihr breites Grinsen zu verbergen. Dasselbe dachte sie, wenn sie Miss Giles sah. In England mochte sie mit dem Korsett gut zurechtkommen, doch hier herrschte ein vollkommen anderes Klima, das das Atmen schon erschwerte, wenn man nicht eingeschnürt war.
»Wir wissen ja alle, warum sie das tut«, wisperte sie zurück. »Sie will Mr Norris gefallen.«
»Aber wenn das so weitergeht, ist sie eher an einem Luftstau gestorben, als er einen Fuß auf diese Insel setzt.«
Als die beiden Mädchen losprusteten, wandte sich Miss Giles mit einem missbilligenden Blick um. Hatte sie ihr Geflüster gehört?
»Ich muss Ihnen doch wohl nicht sagen, dass Ihre Frau Mutter sehr ungehalten reagieren wird, wenn Sie sich verspäten.«
»Ja, Miss Giles«, sagten die Schwestern im Chor, und nachdem die Jüngere die Ältere kurz mit dem Ellbogen angestoßen hatte, machten sie sich an die Arbeit.
Eine Stunde später waren sämtliche Koffer auf den Wagen geladen. Die schwereren Möbelstücke mussten inzwischen schon auf Vannattupp u cci angekommen sein. Der Hauslehrer sowie einige Bedienstete, auf die Mrs Tremayne nicht verzichten wollte, würden in ein paar Tagen folgen.
»Wenn du mich fragst, bin ich gar nicht so verrückt danach, wieder mit dem Unterricht zu beginnen«, flüsterte Victoria, als Grace und sie ihre Plätze in der offenen Kutsche eingenommen hatten, in der sie der Sonne nur durch das Aufspannen ihrer Schirme entkommen konnten. »Vielleicht ist Mr Norris unterwegs von einem Seemonster verschlungen worden.«
»Sei froh, dass Vater die Ansicht vertritt, dass Bildung auch einer jungen Frau nicht schadet. Sonst würdest du wohl kaum so viel über skandalöse Maler des Mittelalters wissen oder deine geliebten Abenteuerbücher lesen können, die Miss Giles am liebsten konfiszieren würde.« Grace blickte zur Gouvernante, die sich noch ein wenig im Hintergrund hielt, als würde sie eine Anweisung ihrer Herrin erwarten.
»Außerdem wäre unsere Gouvernante todtraurig, wenn Mr Norris nicht hier ankommen würde. Sieh mal, wie sie den Hals in Richtung Hafen reckt.«
»Von hier aus wird sie ihn wohl kaum sehen«, gab Victoria vergnügt zurück. »Doch selbst wenn er nicht kommt, gibt es doch hier genug Männer. Hast du die Hafenarbeiter gesehen? Ihre goldbraune Haut. Ich sage
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