Die Schmetterlingsinsel
warum hatte sie es ihrer Mutter und ihr verschwiegen? Schämte sich die Familie dafür?
Das konnte sie kaum glauben, denn viele britische Familien gründeten ihren Reichtum auf Plantagenwirtschaft. Bei ihren Recherchen hatte Diana herausgefunden, dass man zunächst versucht hatte, aus Ceylon eine Kaffeeinsel zu machen, damit aber kläglich gescheitert war. Die brachliegenden Plantagen wurden nach Mitte des 19. Jahrhunderts zu Teeplantagen umgewandelt, die die erfolgreiche Teeproduktion des Landes begründeten. Schon bald wurde Ceylon zu einer bekannten Teesorte, die in alle Welt verschifft wurde.
Ihre Vorfahren hatten ihren Beitrag dazu geleistet, dass der Tee auch heute noch genossen werden konnte.
Das war ganz sicher nichts, dessen man sich schämen musste. Nur warum war nie davon die Rede gewesen?
Die Tatsache, dass ein Teepäckchen auf dem Dachboden die Zeit überdauert hatte, deutete darauf hin, dass Emmely von der Plantage gewusst haben musste. Hatte sie es vielleicht vergessen? Oder hätte sie davon berichtet, wenn sie nur gefragt hätten? Hin und wieder ertappte Diana sich selbst dabei, wie sie Ereignisse in ihrem Leben, die eigentlich wichtig waren, in entfernte Regionen ihrer Erinnerungen schob.
Doch eigentlich war es egal, ob Emmely diese Information bewusst oder unbewusst zurückgehalten hatte. Mit dem Teepäckchen kam es Diana vor, als hätte sie sämtliche Rahmenteile eines Puzzles zusammengefügt und brauchte jetzt nur noch das Innere zu füllen.
Nun kannte sie den Grund, warum Teeblätter das Grab von Beatrice Jungblut zierten. Und was Richard dort gesucht hatte. Jetzt wusste sie, welche Pflanzen den Berg hinaufwucherten, vor dem die junge Grace fotografiert worden war.
Doch gleichzeitig war die Frage, warum Beatrice aus der Gruft ausgeschlossen worden war, immer noch unbeantwortet, genauso wie die Frage, was Beatrice selbst mit Sri Lanka verband, den Grund für Richard Tremaynes Absturz kannte Diana ebenfalls noch nicht, und das allergrößte Rätsel war das Palmblatt, seine Herkunft, seine Bedeutung und die Umstände, wie es in den Besitz der Tremaynes geraten war. Nur eines wusste sie genau: Die Familie musste nach Ceylon gezogen sein. Und dort würde sie vielleicht die Antworten finden.
Nach kurzem Aufenthalt in London und weiteren Stunden Flug, die sie meist schlafend verbrachte, setzte die Maschine in den Morgenstunden des nächsten Tages sanft auf dem Katunayake Airport auf. Der Kapitän verabschiedete sich in perfektem Englisch von den Fluggästen, während das Flugzeug ausrollte.
Diana massierte ihre Waden, die sich vom Sitzen ganz taub anfühlten, dann löste sie den Gurt und reckte sich nach ihrem Handgepäck. Da jetzt alle zum Ausgang drängten, nahm sie sich einen Moment Zeit, um aus dem Fenster zu schauen. Außer Palmen am äußersten Rand des Flughafens erblickte sie nur noch eine weitere Maschine, die kurz vor ihnen gelandet sein musste.
Durch die Türen des Flughafengebäudes drang schwülwarme Luft, die vom Gestank nach Abgas durchsetzt war. Keine exotischen Düfte, wie sie in Reiseführern angepriesen wurden. Doch das würde sich ändern, wenn sie erst einmal in der Stadt war.
Während der Fahrt mit dem Shuttle kramte Diana die Visitenkarte hervor, die sie bei ihrem letzten Treffen von Michael bekommen hatte. Die nüchterne Aufschrift
Jonathan Singh, Chatham Street 23, Colombo, Sri Lanka
begleitet von einer Telefonnummer deutete auf einen geradlinigen und vielleicht etwas verstaubten Forscher hin, der es gewohnt war, unverschnörkelte Ideen in klare Worte zu fassen. Ob er der Richtige für meine Suche ist?
Immerhin war sie froh, zunächst eine Anlaufstelle zu haben. Vielleicht hatte dieser Mr Singh ja tatsächlich ein paar interessante Hinweise für sie.
In einem der Minibusse, die so eine Art Taxiflotte der Stadt bildeten, setzte sie die Fahrt fort und konnte dabei hautnah den berüchtigten Straßenverkehr von Colombo erleben. Begleitet von lauter indischer Musik und einem Hupkonzert, das dem rasanten Fahrer eines Tuktuks galt, der todesverachtend ein paar größere Fahrzeuge schnitt, erreichte sie schließlich das ehrwürdige Grand Oriental Hotel, dessen Fassade in der Sonne leuchtete.
Obwohl die Wolkenkratzer im Hintergrund dem für damalige Verhältnisse recht großen Gebäude ein wenig an Wirkung nahmen, konnte sich Diana gut vorstellen, wie imposant es früher auf die Reisenden gewirkt haben musste.
Innerhalb des sogenannten Forts gab es noch etliche
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