Die Schmetterlingsinsel
Diana.
Nachdem er kurz überlegt hatte, entgegnete er: »Ich bin gleich bei Ihnen!«
Der Schopf verschwand, das Fenster schloss sich. Hinter ihr ertönte ein markerschütterndes Hupen, das sie zusammenschrecken ließ. Der Reiseführer fiel ihr aus der Hand und verfehlte nur knapp den Unrat, der sich in der kleinen Nische neben der Regenrinne ansammelte.
Als sie sich danach bückte, ging die Tür. Diana richtete sich hastig auf und blickte in ein Paar bernsteinfarbener Augen inmitten eines leicht gebräunten Gesichts. Der dunkelhaarige, großgewachsene Mann, der leger mit heller Hose und weißem Hemd bekleidet war, wirkte auf den ersten Blick wie ein Künstler und nicht wie ein angestaubter Geschichtswissenschaftler. So hatte sie sich Michaels Freund nun wirklich nicht vorgestellt.
»Sie sind also Mr Singh.«
Ein Lächeln flammte auf dem Gesicht des Mannes auf. »Ja, der bin ich. Und Sie müssen Michaels Freundin sein. Diana Wagenbach, ist das richtig?«
»Ja, richtig.« Nervös streckte sie ihm die Hand entgegen und merkte dabei nicht, dass etwas aus ihrem Reiseführer fiel. Erschrocken wich sie zurück, als Jonathan sich danach bückte.
»Sie haben etwas verloren!« Mit einem einnehmenden Lächeln streckte er ihr ein graues Stück Papier entgegen. Diana betrachtete es zunächst skeptisch, dann durchfuhr es sie heiß und kalt, als sie es erkannte. Das Foto ihrer Ururgroßmutter! Zumindest der Abzug, den sie vor der Reise von der Platte hatte machen lassen. Jetzt erinnerte sie sich wieder, dass sie es im Flugzeug zwischen die Seiten des Reiseführers gelegt hatte. Eigentlich hatte sie es gleich wieder in ihre Geldbörse wandern lassen wollen, doch dann war sie eingeschlafen und hatte beim Aufwachen den Reiseführer einfach in ihre Tasche gepackt.
»Oh, vielen Dank, es wäre schlimm, wenn ich es verloren hätte.«
Der Mann warf einen kurzen Blick auf das graugrüne Büchlein in ihrer Hand, wobei sich sein Lächeln verbreiterte.
»Glauben Sie nicht, dass Sie einen aktuelleren Plan verwenden sollten?«
»Oh, den habe ich!«, gab Diana zurück. »Dieser hier ist nur dazu da, um das Damals mit dem Heute zu vergleichen.«
»Dann sind Sie Historikerin?«
»Nein, Anwältin.« Hatte Michael ihm das nicht gesagt?
»Verzeihen Sie mir, aber Michael hat aus der Sache ein großes Geheimnis gemacht, so, als könnte ich schon im Voraus das Interesse verlieren. Es ist offenbar schon sehr lange her, dass er hier war, wenn er nicht mehr weiß, dass wir Suchenden gern helfen.«
Als hinter ihnen ein paar protestierende Stimmen laut wurden, zog der Mann sie ein wenig näher zur Hauswand, damit sie den anderen Passanten nicht im Weg standen.
»Über mich wird er Ihnen hoffentlich mehr erzählt haben.«
»Nur, dass Sie mal Wissenschaftler waren und jetzt Bücher schreiben.«
»Das ist richtig. Wie mein Name verrät, bin ich der Sohn eines Inders und einer Engländerin. Ihr Englisch ist übrigens sehr gut.«
Diana schoss das Blut in die Wangen. Nein, so hatte sie sich Jonathan Singh wirklich nicht vorgestellt. Nicht so charmant, nicht auf so verwirrende Weise anziehend vom ersten Moment an …
»Meine Tante … ich meine Großtante, lebte in England. Ich selbst habe englische Vorfahren.«
»Dann sind wir ja praktisch Landsleute!«, gab Singh herzlich zurück. »Was halten Sie davon, wenn wir erst mal einen Tee trinken gehen. Da können Sie mir mehr über sich und Ihr Anliegen erzählen. Ich weiß in der Nähe eine gute Teestube.«
»Reiße ich Sie denn nicht aus Ihrer Arbeit?«, fragte Diana zweifelnd.
»Nein, ehrlich gesagt habe ich schon auf Sie gewartet. Mein Wechsel aus der Forschung in das Autorendasein hat meine sozialen Kontakte noch weiter eingeschränkt, ich bin also froh, endlich mal wieder mit jemandem aus Fleisch und Blut anstelle von Papier zu tun zu bekommen.«
»Sie suchen nach Palmblättern, nicht wahr?«, fragte er, während sie sich durch die Menschenmenge in der Baillie Street schlängelten. »Das war das Einzige, das Michael angedeutet hat.«
»Ja, das ist richtig«, entgegnete Diana.
»Dann sollten wir am besten ins Nationalmusem gehen, die haben eine wunderbare Sammlung von Ola .«
»Ola?«
»Das ist die hiesige Bezeichnung für die Palmblattbücher.«
Diana konnte sich nicht vorstellen, dass die Vorhersagen in einem Museum gehortet wurden. Michael hatte ihr doch gesagt, dass es dafür eigene Bibliotheken gab, die von Readern bewahrt wurden, Tamilen, die sich in den uralten Dialekten
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