Die Schmetterlingsinsel
Richard war kaum mehr als ein Bildnis, das in einem der einsamen Gänge von Tremayne House hing. Ein Mann mit dunklem Haar und anziehenden grauen Augen, der dreinschaute, als würde er von dem hohen Kragen seines Hemdes gewürgt. Wirklich kennengelernt hatte ihn niemand, wenn es nach den Reden ihres Vaters ging, nicht einmal er und Großvater. Sein fünfundzwanzig Jahre zurückliegender Entschluss, nach Ceylon zu gehen, um sein Glück zu suchen, hatte alle entsetzt und dazu gebracht, so wenig wie möglich von ihm zu reden, um nicht noch andere Tremaynes dazu anzustiften, entgegen der Wünsche des Vaters in die weite Welt hinauszuziehen.
Impulsiv sprang Victoria auf, streckte die Arme aus und wirbelte herum. »Wäre das nicht aufregend, in einem Harem zu leben?«
»Eher langweilig«, entgegnete Grace, während sie ebenfalls der Drang überkam, einfach loszutanzen. Victoria konnte in solchen Dingen ziemlich ansteckend sein. Doch durfte sie das tun? Sie war immerhin schon achtzehn und galt damit als Erwachsene. »Du liegst den ganzen Tag auf seidenen Kissen herum, lauschst irgendwelchen Geschichten, ohne die Möglichkeit zu haben, sie selbst zu erleben, und hast als einzige Gesellschaft dickleibige Eunuchen in knappen Lendenschurzen, die dich den ganzen Tag mit heller Stimme nach deinen Wünschen fragen. Von den Intrigen, die die anderen Frauen spinnen, einmal abgesehen.« Erschrocken stellte sie fest, dass ihr Bild vom Leben in einem Harem durchaus einer von Victorias Sixpence-Novels entsprungen sein könnte.
»Aber mein Ehemann wäre ein reicher Sultan, der mich mit Geschenken überhäufen und verwöhnen würde, denn ich wäre seine Lieblingsfrau!« Noch immer drehte sich Victoria im Kreis. Anstatt dass ihr schwindelig wurde, schien sie immer mehr Gefallen an ihrem Tanz zu finden.
»Woher willst du das denn wissen?«, entgegnete Grace und sprang plötzlich auf.
»Ich schaue morgens für gewöhnlich in meinen Spiegel, der sagt mir, dass ich schön genug bin, um die Lieblingsfrau eines Scheichs zu sein.«
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen eitel bist?«
»Sicher, aber das sind doch andere auch. Komm, mach mit, Grace, es ist wie fliegen!«
Grace zögerte nur einen Augenblick. Erwachsensein hin oder her, in der Gesellschaft ihrer kleinen Schwester fielen nun alle Schranken, und sie kam sich vor, als sei sie selbst noch immer vierzehn. Jetzt begann auch sie, sich um die eigene Achse zu drehen. Immer schneller und schneller, während sich ihr Lachen mit dem ihrer Schwester mischte. Der Schwindel fühlte sich köstlich in ihrem Kopf an und vermittelte ihr nach einer Weile tatsächlich das Gefühl zu fliegen.
»Meine Damen!«
Miss Giles’ tadelnde Stimme ließ sie auf der Stelle stoppen. Taumelnd schafften sie es gerade noch, einander zu umarmen, bevor sie beide zu Boden fielen.
Ihre Gouvernante schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie sollten wirklich etwas Besseres vorhaben als solche Albernheiten! Ihre Mutter fragt, ob Sie bereit für die Teestunde sind.«
Keuchend und noch immer kichernd setzten sich die beiden Schwestern auf.
»Aber natürlich, Miss Giles«, antwortete Grace, die sich zum ersten Mal seit langem wieder für einen Moment unbeschwert gefühlt hatte. »Wenn Sie die Güte hätten, uns zwei Kleider aus unseren Koffern herauszusuchen? Sie wissen doch, dass es unsere Mutter nicht schätzt, wenn wir in den Reisekleidern beim Tee erscheinen.«
Kopfschüttelnd begab sich die Gouvernante zu dem Schrankkoffer und begann, ihn zu durchwühlen.
Die ganze Nacht über wurde Grace von den fremdartigen Geräuschen wach gehalten, die durch die Fenster drangen. Wegen der Hitze war es unmöglich, die Flügel ganz zu schließen, die Nachtluft brachte immerhin ein wenig Abkühlung. So hörte sie die Gesänge der Nachtvögel und die fernen Rufe der Affen ebenso wie das Rauschen des Laubes und Grases. Als ihr das Umherwälzen schließlich zu viel wurde, legte sie sich auf den Rücken und starrte mit weit offenen Augen auf die Gardinen, die seltsam verblichen im Mondlicht wirkten. Noch immer bauschten sie sich leicht im Wind, wie die vergessenen Schleier einer Feenkönigin. Hin und wieder glitzerte eines der Ornamente leicht – wie Grace schon zuvor herausgefunden hatte, bestanden die Stickereien teilweise aus Goldfäden. Als sie ihre Entdeckung Victoria mitgeteilt hatte, meinte ihre kleine Schwester dazu: »Wahrscheinlich hat nur die Königin ebenfalls solche Gardinen.«
Auf einmal überkam Grace der
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