Die Schmetterlingsinsel
unbedingt wissen, was hinter dem Vorhang jenseits meiner Großmutter steckt. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Singh nickte. »Ja, ich glaube schon.« Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, dann schüttelte er leicht den Kopf. »Es ist schon seltsam. Zu ihren Lebzeiten bemühen sich unsere Ahnen, die Flecken auf ihrer Vergangenheit geheim zu halten. Und dann bitten sie uns Nachfahren, sie zu finden, weil sie diese Last gern los wären und selbst nicht die Kraft haben, sie zu offenbaren.«
Die Weisheit seiner Worte ließ Diana staunen. Gleichzeitig fragte sie sich, ob das Geheimnis ihrer Familie ein derart großer Fleck war, dass sich Emmely seiner schämte.
»Wir sollten dies als unsere Verpflichtung für unsere Nachkommen ansehen, nicht wahr?« Singh sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an. So als sei ihm gerade irgendein Fleck auf seiner eigenen Vergangenheit bewusst geworden. »Die Vergangenheit selbst offenzulegen, bevor sich unsere Kinder damit abmühen müssen.«
»Ich betrachte das nicht als Mühe«, gab Diana ein wenig beklommen zurück. »Im Gegenteil. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, wie meine Vorfahren gelebt haben könnten. Durch den Zweiten Weltkrieg ist viel verloren gegangen. Meine Großmutter, die mir vieles hätte erzählen können, starb bei der Geburt meiner Mutter. Und Tante Emmely war immer schon sehr verschwiegen. Vielleicht wollte sie sich selbst nicht erinnern …«
»Das hat sie sicher getan«, entgegnete Jonathan, der jetzt wieder ein wenig entspannter wirkte. »Sonst hätte sie diese Bitte nicht an Sie gerichtet. Vielleicht glaubte sie, dass Sie besser verstehen würden, wenn Sie sich die Vergangenheit erarbeiten anstatt einfach nur eine Geschichte erzählt zu bekommen.«
Schweigen folgte seinen Worten. Nach kurzem Nachdenken konnte Diana nur bestätigen, dass er recht hatte. Bevor sie das Gespräch fortsetzen konnten, erschien der Kellner mit einigen dampfenden Schalen, aus denen es wunderbar duftete. Diana entdeckte kleine Küchlein, verschiedene Chutneys und etwas, das wie das rote Curry aussah, das man auch im Thai-Restaurant bekam.
Der Kellner sagte etwas auf schnellem Tamil, dann zog er sich wieder zurück. Staunend betrachtete Diana das Mahl und atmete tief die verschiedenen Düfte ein.
»Das ist einfach wunderbar! Was ist das?«
»Ein Querschnitt durch die tamilische Küche.« Jonathan deutete nacheinander auf die Speisen. »Idli und Vadai, bei uns die Bezeichnung für gedämpfte beziehungsweise frittierte Küchlein aus Urdbohnen und Reis, Chutney, Rasam, das ist eine dünne Pfeffersoße, und ein rot gekochtes Curry. Danach gibt es noch kühlen Joghurt.«
»Wenn dann noch etwas in mich hineinpasst«, gab Diana lachend zurück, wobei sie aufpassen musste, dass ihr nicht zu sehr das Wasser im Mund zusammenlief.
»Bei uns isst man traditionell mit den Fingern aus einem Bananenblatt«, erklärte Jonathan, während er Diana zeigte, wie sie das steife grüne Blatt zu halten hatte. »Sie können auch mit Besteck essen, doch so ist es ursprünglicher.« Als seine Hand ihre streifte, sahen sie sich kurz in die Augen. Der Bernstein wirkte nun dunkler, fast braun, und Diana hatte auf einmal das Gefühl, sich in ihm zu verlieren. Doch ebenso rasch, wie die Empfindung sie überkommen hatte, rief sie sich wieder zur Ordnung, und als sie den ersten Bissen nahm, wich die Verwirrung einem Genuss, wie sie ihn zuvor noch nie auf die Zunge bekommen hatte.
Als sie kurz nach Mitternacht ins Hotel zurückkehrte, fühlte sich Diana irgendwie seltsam. Das lag nicht an dem hervorragenden Essen, und auch nicht an Jonathan, der die ganze Zeit über ein sehr freundlicher und zuvorkommender Fremdenführer war. Dass sie sich ihm offenbart, das Geheimnis geteilt hatte, gab ihr das Gefühl, einige Dinge klarer zu sehen, obwohl sie noch immer nicht mehr wusste als zuvor.
Für den kommenden Tag hatte Jonathan ihr versprochen, sich ein wenig bezüglich der Nadi-Reader umzuhören. Diana konnte es kaum abwarten, von ihm Bescheid zu bekommen.
Nachdem sie ihre Mail-Adressen ausgetauscht hatten, hatte er sie zurück ins Hotel gebracht. Schweigend, ein jeder in seine eigenen Gedanken versunken, waren sie durch die Stadt gelaufen. Dabei war Dianas Blick immer wieder verstohlen zu Jonathan gewandert. Absurde Fragen wie: Ob er ins Fitnesscenter geht? Welche Schuhgröße trägt er wohl? Wie mag seine Wohnung aussehen? waren ihr durch den Kopf gegangen, und beinahe hatte sie sich
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