Die Schmetterlingsinsel
dunkelhaarig und trug einen Bart. Seine Kleidung wie auch seine Sprache wiesen ihn als Mitglied der englischen Oberschicht aus.
Grace richtete sich auf und strich ihr Kleid glatt. »Verzeihen Sie, Sir, wir sind gerade erst hier angekommen und haben nicht mit so regem Verkehr gerechnet.«
Der Mann musterte sie von Kopf bis Fuß. Der Groll in seinem Gesicht verschwand ein wenig. »Sie müssen zu den Neuankömmlingen gehören. Tremayne, nehme ich an.«
Als Grace nickte, stieg der Mann aus dem Sattel und kam auf sie zu. Dabei ließ er ihr Gesicht nicht aus den Augen. »Mein Name ist Dean Stockton, es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss …«
»Grace. Grace Tremayne. Das ist meine jüngere Schwester Victoria.«
Der Mann nahm ihre Hand und hauchte einen Handkuss darauf, dann wandte er sich lächelnd an Victoria. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie beinahe über den Haufen geritten habe. Aber hier oben kommt nur selten jemand vorbei, und ich fürchte, ich habe den halsbrecherischen Stil der Einheimischen angenommen. Sie müssten mal sehen, was sie mit Pferdewagen anstellen.«
Grace antwortete nicht. Etwas an dem Mann war ihr plötzlich unangenehm. Sein Geruch? Sein Lächeln? Das seltsame Funkeln in seinen Augen?
»Soll ich Sie vielleicht nach Hause begleiten?« Sein Lächeln verbreiterte sich, als er das, wonach er in ihren Zügen offenbar gesucht hatte, fand. »Wie Sie gesehen haben, kann es in dieser Gegend recht gefährlich sein. Es würde mir leidtun, wenn den beiden reizenden Töchtern meines neuen Nachbarn etwas zustieße.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, gab Grace gestelzt zurück. »Doch wir wollen Sie nicht länger von den Geschäften abhalten, die Sie in so offensichtliche Eile gestürzt haben. Haben wir den Weg hierher gefunden, finden wir ihn auch wieder zurück. Guten Tag, Mr Stockton.«
Grace nahm ihre Schwester bei der Hand und zog sie mit sich. Dabei spürte sie den Blick des Mannes in ihrem Rücken, so lange, bis er aufsaß und davonritt. Ihre Befürchtung, dass er an ihnen vorbeiziehen könnte, bewahrheitete sich nicht, er verschwand in einem Seitenweg.
»Warum warst du denn so böse auf ihn?«, fragte Victoria, als sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren.
»Er hätte dich beinahe über den Haufen geritten!«, entgegnete Grace, während sie voranschritt, als hätte sie Siebenmeilenstiefel unter den Füßen. »Und dann gibt er auch noch uns die Schuld!«
»Aber er hat sich ja entschuldigt. Und er wusste, dass wir da sind! Als er erfahren hat, wer wir sind, war er doch ganz freundlich.«
»Zu freundlich, wenn du mich fragst«, gab Grace gereizt zurück. Sie wusste auch nicht, woher dieser Groll kam, eigentlich war sie Fremden gegenüber nicht so schnell aufgebracht. »Und wenn du mich fragst, so was Besonderes ist es nicht, dass er von unserer Ankunft wusste. Wahrscheinlich wissen das mittlerweile alle hier. Hast du auf dem Weg hierher die vielen Villen gesehen? Die Leute dort warten doch nur, dass etwas Neues passiert. Pass auf, eines Tages sind wir genauso und stürzen uns auf jeden, der neu auf diesen Berg zieht.«
Nuwara Eliya, 2008
Am nächsten Morgen wurden Diana und Jonathan von einem Verwandten des Brautpaars zu einer kleinen Bahnstation gefahren, von der ein Zug nach Nuwara Eliya fahren sollte. Der Zug, der aus dichten Nebelschwaden auftauchte, war zu dieser Zeit schon ziemlich überfüllt, doch die Menschen verhielten sich bei aller Enge gesittet, und niemand beschwerte sich, wenn er von Diana oder Jonathan versehentlich angerempelt wurde.
Nach einigen Stationen wurden sogar ein paar Sitzplätze frei, so dass die beiden nicht mehr stehen mussten.
»Man nennt Nuwara Eliya auch das kleine England«, sagte Jonathan, als der Zug an den grünen Hügeln vorbeifuhr. »Sie können sich vielleicht denken, warum?«
Diana war ganz gefesselt von dem Anblick. Hier und da wurde das Grün von einem weißen Punkt durchbrochen. Einem Punkt, den es sicher erst seit zweihundert Jahren hier gab.
»Die Villa dort oben ist englisch«, antwortete sie lächelnd. »Tremayne House sieht ähnlich aus, nur die Landschaft ist dort nicht so schön.«
»Solche Villen gibt es hier sehr viele, sicher mehr als Teeplantagen. Eine Zeitlang war dieses Land bei den Engländern sehr beliebt, ein krasser Gegensatz zu ihrer eher kühlen Heimat. Der Monsunregen indes mag sie vielleicht gerade an ihr Land erinnert haben, weshalb sie sich sofort heimisch fühlten. Außerdem
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