Die Schmetterlingsinsel
noch ein bisschen hier«, beschloss Grace, denn sie wollte nicht zurück hinter die stickigen Mauern. »Wir könnten uns vielleicht die Elefanten ansehen, die den Wald roden. Was meinst du dazu?«
Victoria nickte mit leuchtenden Augen. Doch sogleich schlich sich der Zweifel wieder an. »Aber Mama wird uns vermissen. Der Vormittag ist fast rum, und bestimmt hat Miss Giles ihr schon Bescheid gegeben, dass wir nicht aufzufinden sind.«
»Wir erklären ihr hinterher, wo wir waren. Immerhin kann sie es sich denken, wir hatten ja schon gestern von den Elefanten gesprochen. Vielleicht sehen wir unterwegs noch ein paar hübsche Schmetterlinge.«
Das überzeugte Victoria. Obwohl ihre einzige Richtungsangabe war, dass sich das frisch gerodete Feld weiter höher auf dem Hang befand, schritt sie entschlossen den Weg entlang, der durch das Teefeld führte. Hin und wieder traf sie der Blick einer Pflückerin, die sich aber sogleich wieder ihrer Arbeit zuwandte, wenn Grace sie ansah.
Nach einer Weile erreichten sie ein Waldstück, durch das laute Rufe hallten. Das Gelände hier war recht steil und ziemlich unwegig, aber immerhin gab es einen breiten steinigen Weg, der mit riesigen Fußabdrücken der Elefanten übersät war. Ein Haufen abgesägter Stämme türmte sich am Rand. Hier waren sie richtig.
»Pass nur auf, wo du hintrittst«, mahnte Grace ihre Schwe ster, während sie ihren Blick am Boden kleben ließ, um ja keine gefährliche Unebenheit zu übersehen. »Womöglich rollst du den ganzen Berg hinunter und bist unten nichts weiter als ein Haufen Knochen, die nicht mehr wiederzuerkennen sind.«
»Das wäre ein Spaß!«, erwiderte Victoria vergnügt. »Ich wollte schon immer wissen, wie sich Würfel fühlen.«
»Würfel?«, wunderte sich Grace und wäre daraufhin beinahe hinter einer Baumwurzel festgehakt, die der Regen aus dem Boden gewaschen hatte.
»Na, die werden im Becher auch durcheinandergeworfen!« Victoria lächelte breit. »Außerdem solltest du mal besser aufpassen, nicht ich bin eben gestolpert.«
Als sie Stimmen vernahmen, machten Grace und Victoria halt. Wenig später tauchten drei Männer auf, die einen Elefanten mit sich führten. Dieser war nicht so prachtvoll geschmückt wie die Tempelelefanten in Colombo. Die Kette um seinen rechten Vorderfuß, die von einem der Arbeiter festgehalten wurde, schnitt sich in sein Fleisch. Grace schluckte, als sie außerdem Spuren von Misshandlung an dem Tier erkannte. War das der Grund, weshalb Vikrama ihren Vater nicht hier raufgeführt hatte? Weil er ihn nicht damit schockieren wollte, wie hier mit den Arbeitstieren umgegangen wurde? Auch Victoria wirkte sichtlich erschrocken über das Tier, dessen graue Baumrindenhaut von Blutschlieren bedeckt war.
»Wir sollten besser wieder gehen«, sagte Grace, während sie nach der Hand ihrer Schwester griff. Diese ließ sich ohne Protest von dem Ort wegführen.
Während des Abstieges sprachen beide kein Wort. Vor dem Teefeld entschlossen sie sich, einen anderen Weg einzuschlagen als den, auf dem sie gekommen waren.
Vielleicht bekommen wir hier etwas zu sehen, das uns fröhlicher stimmt, dachte Grace beklommen und nahm sich vor, ihren Vater auf den Elefanten anzusprechen.
Noch immer schweigsam trotteten sie den Weg entlang. Grace bemerkte, wie sehr der vergangene Anblick ihre Schwester mitnahm.
»Heute Morgen war ich schon sehr früh wach«, begann Grace schließlich. »Ich habe einen recht großen blauen Falter gesehen. Der hätte dir gefallen.«
»Und warum hast du mich dann nicht geweckt?«, fragte Victoria ohne wirkliches Interesse, denn die Bilder hatten sich in ihren Augen festgesetzt. Im nächsten Augenblick kam sich Grace dumm vor. Victoria war kein kleines Kind mehr, dem man etwas Schlimmes, das es gesehen hatte, mit einer hübschen Geschichte austreiben konnte.
»Du hast so schön geschlafen. Und es war noch so früh. Aber ich bin sicher, er kommt wieder. Dann …«
Plötzlich schoss ein Reiter aus dem Gestrüpp. Erschrocken schrie Victoria auf. Grace zögerte keinen Moment und packte sie am Handgelenk. Gerade so gelang es ihr, ihre Schwester beiseitezuziehen, bevor sie unter die Hufe des Tiers geraten konnte. Der Rotfuchs stieg erschrocken auf die Hinterhand, während der Reiter verzweifelt versuchte, im Sattel zu bleiben. Es dauerte eine Weile, bis er das Tier wieder unter Kontrolle hatte. »Verdammt, Kinder, was sucht ihr hier?«
Der Mann, der sie mit vor Schreck und Zorn flammenden Augen ansah, war
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