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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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zu, wie sich die Blüten an den Ästen öffneten und die ersten Pfirsiche wuchsen. Es dauerte kaum ein paar Minuten, bis sie reif und hellgelb mit kleinen roten Stellen am Stiel waren. Das Mädchen pflückte ein paar Pfirsiche und verteilte sie unter die Zuschauer. Aber keiner wagte es, einen Pfirsich zu versuchen. Nur der kleine Junge nahm einen Pfirsich an und schlang ihn hinunter. Als sie ihn fragte, wie ihm der Pfirsich schmecke, sagte er: Köstlich. Das Mädchen forderte die Zuschauer zum zweiten Mal auf, ihre Pfirsiche zu versuchen. Aber sie standen wieder stumm mit weit aufgerissenen Augen herum und trauten sich nicht an die Pfirsiche heran. Seufzend ließ sie mit einer Handbewegung den Baum und die Früchte verschwinden. Nur ein ödes Stück Erde blieb zurück.
    Nach der Vorstellung sammelten das Mädchen und der alte Mann ihre Sachen ein und machten sich fertig zum Aufbruch. Der kleine Junge sah ihr sehnsüchtig zu. Ihr Lächeln zeigte ihm, dass ihr seine Aufmerksamkeit nicht entgangen war. Ihre roten Lippen und ihre weißen Zähne, so süß wie ein Pfirsich, verzauberten ihn. Seine Seele wollte dem Leib entfliehen. Kleiner Bruder, sagte sie, du bist der Einzige, der einen von meinen Pfirsichen gegessen hat, und das bedeutet, dass wir vom Schicksal füreinander bestimmt sind. Was meinst du? Ich werde dir meine Adresse geben, und wann immer du an mich denkst, kannst du mich dort finden.
    Das Mädchen zog einen Kugelschreiber aus der Tasche, fand einen Zettel und kritzelte eine Adresse hin, die sie dem Jungen gab. Er versteckte sie an einem sicheren Ort wie einen kostbaren Schatz. Aber als der alte Mann und das Mädchen fortgingen, folgte er ihnen wie in Trance. Ein paar Kilometer weiter blieb das Mädchen stehen und sagte: Geh nach Hause, kleiner Bruder, wir sehen uns wieder. Die Tränen sprangen ihm in die Augen und liefen über seine Wangen. Mit einem roten Seidentuch trocknete sie seine Tränen. Dann rief sie plötzlich: Kleiner Bruder, deine Eltern sind gekommen und wollen dich abholen.
    Der kleine Junge drehte sich um und sah seinen Vater und seine Mutter, die hinter ihm herhinkten, mit den Armen winkten und die Lippen bewegten, als riefen sie ihm etwas zu. Aber er konnte nichts hören. Als er sich wieder zur anderen Seite drehte, waren das Mädchen und der alte Mann spurlos verschwunden. Er drehte sich wieder zurück, und seine Eltern waren auch spurlos verschwunden. Er warf sich auf den Boden und weinte und schrie wie ein Säugling. Nach einer langen Zeit setzte er sich, vom vielen Weinen erschöpft, auf und starrte mit leerem Blick in die Luft. Als er davon genug hatte, legte er sich wieder hin und sah hinauf zum Himmel, an dem weiße Wattewölkchen träge über einen Ozean von Blau trieben.
    Wieder zu Hause angekommen, wurde der Knabe von Liebessehnsucht gepackt. Er aß nicht, er sprach nicht, er trank nur ein einziges Glas Wasser am Tag und wurde dünner und dünner, bis er nur noch aus Haut und Knochen bestand. Mit offenen Augen war er blind, nur wenn er sie schloss, sah er das schöne Mädchen neben sich stehen. Er roch den Moschusduft ihres Atems und sah die Leidenschaft in ihren Augen. Liebe ältere Schwester, rief er aus, ich vermisse dich mehr, als ich ertragen kann. Er öffnete die Arme, um sie zu umfangen, öffnete die Augen, und da war nichts. Da die besorgten Eltern einsehen mussten, dass ihr Sohn sich vor Kummer verzehrte, riefen sie seinen Onkel, einen weisen Mann von scharfem Blick, klarem Geist, gesundem Menschenverstand und tiefer Einsicht zu Hilfe. Ein Blick auf den Knaben genügte ihm, um die Ursache seiner Krankheit zu erkennen. Liebe Schwester, lieber Schwager, sprach er seufzend, gegen die Krankheit meines Neffen gibt es keine Medizin, und wenn es so weitergeht, wird es bald keine Rettung mehr für ihn geben. Deshalb glaube ich, es wird das Beste sein, wenn wir «das sterbende Pferd behandeln, als sei es gesund und munter». Gebt ihm seine Freiheit und lasst ihn gehen. Wenn er das Mädchen findet, werden sie vielleicht ein Paar. Wenn nicht, gibt er die Suche vielleicht irgendwann einmal auf. Die sorgenvollen Eltern sahen ein, dass sie keine andere Wahl hatten, und beschlossen, dem Vorschlag des Onkels zu folgen.
    Die drei Erwachsenen begaben sich ans Bett des Jungen, und der Onkel sagte: Neffe, ich habe deine Eltern überredet, dass sie dich gehen lassen, um das Mädchen zu suchen.
    Der Junge sprang aus dem Bett, verneigte sich vor seinem Onkel und schlug immer wieder die Stirn

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