Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
rein!
    Das war es, sagte meine Schwiegermutter ohne besondere Betonung. Fünf Minuten später trugen zwei junge Frauen in schneeweißen Krankenhauskitteln mit viereckigen Hauben auf einer eigens konstruierten Tragbahre ein nacktes Fleischkind in den Hörsaal. Man hätte die Frauen für attraktiv halten können, aber ihre bleichen Gesichter waren mir unheimlich. Sie setzten die Bahre auf den Hackklotz und traten dann mit steif am Körper herabhängenden Armen beiseite. Meine Schwiegermutter beugte sich vor, um das Fleischkind zu inspizieren, stieß ihm einen weichen gepflegten Zeigefinger in die Brust und nickte zufrieden. Dann richtete sie sich auf und ermahnte die Hörerinnen und Hörer noch einmal mit großem Ernst: Ihr dürft nie, nie vergessen, dass es nur ein kleines Tier in menschlicher Gestalt ist. Kaum hatte sie diese Worte geäußert, als sich das kleine Tier in menschlicher Gestalt auf seiner Bahre zur Seite wälzte. Die Hörer schnappten überrascht nach Luft. Alle Anwesenden, mich selbst eingeschlossen, glaubten, der kleine Kerl werde sich hinsetzen. Glücklicherweise tat er es nicht. Er wälzte sich nur auf die andere Seite und ließ sein süßes gleichmäßiges Schnarchen durch den ganzen Hörsaal erklingen. Sein rundes, speckiges, helles, rosenfarbenes Gesicht war den Hörern, und damit natürlich auch mir, zugewandt. Wir sahen einen anmutigen, gesunden kleinen Jungen mit schwarzem Haar, langen Wimpern, einer Nase wie eine winzige Knoblauchzehe und einem kleinen rosa Mündchen. Er schmatzte ein wenig, als lutsche er im Traum ein Bonbon. Meine Frau und ich waren seit drei Jahren verheiratet, aber wir hatten keine Kinder. Ich war förmlich in Kinder vernarrt und musste mich zusammennehmen, um nicht zu dem Hackklotz vorne im Hörsaal zu stürzen, den kleinen Kerl in die Arme zu nehmen, sein Gesicht und seinen Bauchnabel zu küssen, seinen kleinen Pimmel zu berühren und in seine niedlichen kleinen Füßchen zu beißen. Er hatte kleine Speckfüßchen, die da, wo sie in die Beine übergingen, dicke Fältchen bildeten. Dem Gesichtsausdruck der Hörer und Hörerinnen, besonders der gebannt hinschauenden Hörerinnen, konnte ich entnehmen, dass sie die gleiche zärtlich warme Liebe für den kleinen Kerl empfanden wie ich. Ebendeshalb erhob meine Schwiegermutter die Stimme so, dass sie im Hörsaal widerhallte und das gleichmäßige Schnarchen des kleinen Kerls übertönte. Betont sachlich und kühl sagte sie: Sie müssen alle ungesunden Gefühle aus Ihren Herzen verbannen. Sonst können wir nicht mit dieser Vorlesung fortfahren. Sie packte den Kleinen am Arm und drehte ihn um 180 Grad, bis er auf die Schnabeltiere in ihrem Aquarium blickte und uns seinen kleinen Hintern zeigte. Meine Schwiegermutter stieß ihm einen Finger ins Fleisch und wiederholte: Das ist kein menschliches Wesen, überhaupt kein menschliches Wesen.
    Als wolle er gegen diese Einschätzung protestieren, gab der kleine Kerl einen gewaltigen Furz von sich, der in keinerlei Verhältnis zu seiner Körpergröße stand. Überrascht schauten die Hörerinnen und Hörer einander etwa fünfzehn Sekunden an und brachen dann in lautes Gelächter aus. Meine Schwiegermutter versuchte, ernst zu bleiben, aber sie schaffte es nicht. Schließlich stimmte auch sie in das Gelächter ihrer Hörerinnen und Hörer ein.
    Sie schlug auf das Pult, um das Gelächter zu beenden. Sie sagte: Diese kleinen Tiere sind trickreich. Die Hörer wollten wieder anfangen zu lachen. Aber sie sagte: Schluss mit dem Gelächter! Dies ist die wichtigste Vorlesung in Ihrer vierjährigen Ausbildung. Wenn Sie die Technik der Zubereitung von Fleischkindern einmal beherrschen, brauchen Sie sich nie wieder Sorgen zu machen, gleichgültig, wo Sie sind. Wollen Sie nicht alle ins Ausland reisen? Wenn Sie dieses einmalige Gericht beherrschen, ist das, als hielten Sie ein Dauervisum in der Hand. Damit können Sie die Ausländer besiegen: Yankees, Japse, Welsche, Krauts und alle anderen.
    Offenbar hatten ihre Worte ihr Ziel erreicht, denn sie hörten ihr mit erneuter Aufmerksamkeit zu. Jeder Einzelne hielt einen Federhalter in der Hand, stützte sich mit der anderen auf sein Kollegheft und richtete den Blick auf meine Schwiegermutter. Das Fleischkind schläft so fest, sagte sie, dass es nichts von dem wahrnehmen wird, was wir tun. Kein Anzeichen von Protest. Mit einer Handbewegung rief sie die zwei Frauen in Weiß herbei, die in der Ecke gestanden und auf ihren Befehl gewartet hatten. Sie traten

Weitere Kostenlose Bücher