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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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näher heran und halfen ihr dabei, das Fleischkind hochzuheben und es auf ein extra zu diesem Zweck entworfenes Gestell in Form eines Vogelkäfigs zu heben, an dessen Spitze ein Haken angebracht war, der in einen von der Decke hängenden Ring eingriff. Mit der Hilfe der beiden Frauen in Weiß wurde der Käfig in die Höhe gezogen. Das Fleischkind lag in seinem Käfig. Ein fetter kleiner Fuß hing unter dem Gestell hervor. Es war ein lieblicher Anblick. Zunächst muss es ausbluten, erklärte meine Schwiegermutter. Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass früher einige Genossen der Meinung waren, das Blut im Körper zu belassen verbessere den Geschmack des Fleischkinds und erhöhe seinen Nährwert. Ihre Theorie beruhte auf dem Vorbild der koreanischen Küche, in der nie ein Einschnitt gemacht wird, um Blut abzulassen, wenn man Hundefleisch kocht. Aber nach mehrfachen Experimenten und vergleichenden Studien sind wir zu dem Schluss gekommen, dass ein Fleischkind sehr viel besser schmeckt und zarter ist, wenn das Blut entfernt wird. Es ist eine ganz einfache Tatsache: Je besser ein Fleischkind ausgeblutet ist, desto besser ist die Farbe. Wenn das Blut eines Fleischkinds nicht vollständig entfernt ist, nimmt das Endprodukt eine dunkle Farbe und einen durchdringenden Geruch an. Deshalb darf man diese Phase nicht nachlässig behandeln. Meine Schwiegermutter griff mit der linken Hand nach dem Fuß, der vom Gestell herabhing. Der kleine Junge brabbelte irgendetwas vor sich hin. Die Hörer spitzten die Ohren und versuchten zu verstehen, was er sagen wollte. Meine Schwiegermutter fuhr fort: Wir müssen die richtige Stelle für einen Einschnitt finden, um das vollständige Ausbluten des Fleischkinds zu garantieren. Normalerweise machen wir einen Einschnitt in eine Fußsohle, um eine Arterie freizulegen, die wir dann öffnen, um das Blut abfließen zu lassen. Während sie sprach, tauchte in ihrer rechten Hand ein Schmetterlingsmesser auf und richtete sich auf das Kind … Selbst mit geschlossenen Augen glaubte ich, den kleinen Jungen auf seiner Bahre schreien zu hören. Tische und Stühle schlugen geräuschvoll gegeneinander, als die Hörer fluchtartig den Hörsaal verließen. Aber als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich, dass ich mir das alles eingebildet hatte. Das Fleischkind weinte nicht, schrie nicht, und in seinem Fuß war bereits eine Öffnung zu sehen. Mit seltsamer Schönheit fielen leuchtend rote Bluttropfen wie Juwelen in ein Glas unter seinem Fuß. Im Hörsaal herrschte Totenstille. Alle Hörer – männliche wie weibliche – starrten mit hervorquellenden Augen auf den Fuß des Fleischkinds und auf das Blut, das ihm entströmte. Auch die Fernsehkamera war auf den Fuß und das Blut darunter gerichtet. Das Blut glitzerte im Scheinwerferlicht. Ich hörte den schweren Atem der Hörer, der anschwoll wie eine Flutwelle, und das klare, helle, dem Ohr schmeichelnde Geräusch, mit dem das Blut in das Glas fiel, wie ein Bach in eine Schlucht stürzt. Meine Schwiegermutter sagte: Das Fleischkind wird in etwa anderthalb Stunden vollständig ausgeblutet sein. Im zweiten Schritt müssen die Eingeweide entfernt werden, ohne sie zu verletzen. Im dritten Schritt wird das Haar bei einer Temperatur von 70 Grad Celsius unter fließendem Wasser abgelöst … Eigentlich habe ich keine Lust, die Kochstunde meiner Schwiegermutter zu beschreiben. Sie war langweilig und zugleich Ekel erregend. Es wurde Abend, und das Gehirn des Doktoranden der Alkoholkunde, das voll von wunderbaren neuen, vom Alkohol inspirierten Einfällen war, musste sich auf eine neue Erzählung mit dem Titel Schwalbenjagd konzentrieren, statt sein Talent an ein Festmahl für Menschenfresser zu verschwenden.

SIEBTES KAPITEL
     
I
     
    Das Geständnis der Lastwagenfahrerin traf den Ermittler wie ein Messerstich ins Herz. Er schlug die Hände vor der Brust zusammen wie ein verliebter Teenager und krümmte sich vor Schmerz. Er sah auf ihre rosa Füße, die noch lebhafter als ihre Hände über den Teppich strichen. Böse Leidenschaft erfüllte sein Herz. Mit zusammengebissenen Zähnen knurrte er «Schlampe!», bevor er sich umdrehte und zur Tür ging.
    Er spürte ihren Aufschrei förmlich auf seinen Rücken aufprallen: «Wohin willst du, du Hurenbock? Wer, glaubst du eigentlich, dass du bist? Was fällt dir ein, eine schwache Frau so zu tyrannisieren?»
    Er ging weiter. Ein funkelndes Trinkglas sauste an seinem Ohr vorbei, schlug an der Tür auf und landete auf dem

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