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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Als sie mich sahen, wurden sie munter wie Hunde, die Beute wittern. Ihre aufgerichteten Ohren sahen aus wie kleine Pfannkuchen, und ihren Nasenflügeln entfuhr ein schweres Schnauben. Sie konnten mir keine Angst einjagen, denn ich wusste, dass sie wieder in ihre normale Trägheit zurückfallen würden, sobald ich den Namen meiner Schwiegermutter nannte. Die Gestaltung des Geländes war ausgeklügelt und wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Garten des ländlichen Gelehrten in Suzhou auf. Mitten auf dem Weg stand ohne ersichtlichen Grund ein gewaltiger Felsen, der die Farbe einer Schweineleber hatte. Die Inschrift auf dem Felsen lautete: DER DANKBARE FELSEN WEIST ZUM HIMMEL . Nachdem ich die Erlaubnis der Wachleute eingeholt hatte, schlenderte ich weiter, bis ich die Feinschmeckerabteilung gefunden hatte. Dann ging ich an endlosen Reihen von eisernen Geländern entlang, ging an dem eleganten Gebäude vorbei, in dem die Fleischkinder gemästet werden, ging an ein paar künstlichen Hügeln und einem Springbrunnen vorbei, ging an den Dressurräumen für exotische Vögel und seltene Tiere vorbei und betrat schließlich eine dunkle Höhle, die auf einen hell erleuchteten Platz führte. Es war ein Hochsicherheitsgelände. Eine junge Dame händigte mir einen Overall aus und sagte: «Ihre Kollegen machen gerade Aufnahmen von der Assistenzprofessorin.» Sie verwechselte mich mit einem Reporter vom Lokalfernsehen. Als ich die kegelförmige Schutzhaube überstreifte, roch ich den Duft von frischer Seife. In diesem Augenblick erkannte mich die junge Dame.
    «Ihre Frau, Yuan Meili, und ich sind zusammen zur Schule gegangen», sagte sie unfreundlich und trübsinnig. «Damals hatte ich viel bessere Noten als sie, aber jetzt ist sie eine berühmte Journalistin, und ich bin eine bescheidene Pförtnerin.»
    Aus ihren Blicken sprach tief sitzender Groll, als sei ich es gewesen, der ihre Zukunftsaussichten zerstört hatte. Ich nickte ihr entschuldigend zu, aber ihr trauriges Gesicht füllte sich plötzlich mit Stolz. «Ich habe zwei Söhne», brüstete sie sich, «und einer ist klüger als der andere.»
    Bösartig erwiderte ich: «Wollen Sie sie nicht in der Feinschmeckerabteilung abgeben?»
    Ihr Gesicht lief blau an, und da ich auf keinen Fall schon wieder eine Frau mit einem blau angelaufenen Gesicht ansehen wollte, machte ich mich auf den Weg zum Laboratorium. Ich konnte hören, wie sie mit den Zähnen knirschte und fluchte: «Eines Tages wird irgendjemand euch Menschen fressenden Ungeheuern genau das verpassen, was ihr verdient!»
    Die Bemerkung der jungen Frau ließ Schreckenswellen durch mein Herz jagen. Wer waren die Menschen fressenden Ungeheuer, von denen sie sprach? War ich eines davon? Ich dachte an das zurück, was die Würdenträger von Jiuguo gesagt hatten, als die berühmte Spezialität aufgetragen wurde: Was wir hier essen, ist kein Menschenfleisch, sondern ein mit Hilfe spezieller Küchentechniken zubereitetes Gericht für Feinschmecker. Die Schöpferin dieses Gerichts für Feinschmecker war meine schöne Schwiegermutter, die ihre Schüler jetzt in einem geräumigen, gut beleuchteten Hörsaal unterrichtete. Sie stand im hellen Rampenlicht hinter einem Pult. Ich konnte ihr weites, rundes Vollmondgesicht sehen, das so glatt und strahlend war wie eine Porzellanvase.
    In der Tat waren Reporter da, die ihre Vorlesung fürs Fernsehen aufnahmen. Einer von ihnen, ein Typ mit spitzem Mund und Affenbäckchen namens Qian, war der Leiter des Nachrichtenprogramms. Er spazierte mit der Videokamera auf der Schulter im Hörsaal hin und her. Sein Assistent, ein kleiner, bleicher, fetter Kloß, schleppte Scheinwerfer und Kabel durch die Gegend und richtete die glühend heißen Scheinwerfer nach Qians Anordnungen einmal auf das Gesicht meiner Schwiegermutter, einmal auf den Hackklotz, der vor ihr stand, und dann wieder auf die Gesichter der Hörer und Hörerinnen, die ihrer Vorlesung aufmerksam folgten. Ich fand einen freien Platz und setzte mich. Ich fühlte, wie der zarte, liebevolle Blick ihrer großen graubraunen Augen ein paar Sekunden an meinem Gesicht hängen blieben. Verlegen senkte ich den Kopf.
    Vier Worte, die in das Pult vor mir eingeritzt waren, fielen mir ins Auge: ICH WILL DICH FICKEN . Sie stürzten wie vier schwere Felsbrocken in mein Gemüt und ließen Gefühlswogen aufwallen. Ich spürte, wie mein Körper taub wurde; meine Gliedmaßen zitterten wie bei einem elektrisierten Frosch; und eine bestimmte Stelle in der Mitte

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