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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Samstagabend benutzt, von der hier ganz zu schweigen.»
    Er warf Ding Gou'ers Pistole mit einer Geschicklichkeit in die Luft, die sein Alter Lügen strafte, und fing sie wieder auf. Er hatte einen länglichen Kopf, schmale Augen, eine Hakennase, keine Augenbrauen und keine Koteletten. Sein faltiges Gesicht war so dunkel wie ein Baumstamm, der im Kohlenmeiler gelegen hat. «Diese Pistole», sagte er verächtlich, «ist besser für Frauen geeignet als für Männer.»
    In ruhigem Ton antwortete der Ermittler: «Sie ist sehr genau.»
    Der alte Mann untersuchte sie aufs Neue und sagte dann in belehrendem Tonfall: «Auf eine Entfernung von zehn Meter ist sie ausgezeichnet. Darüber hinaus taugt sie einen Scheißdreck.»
    «Sie kennen sich wirklich aus, Großvater», erwiderte Ding Gou'er. Der alte Mann steckte die Pistole des Ermittlers in den Gürtel und schnaubte verächtlich.
    «Großvater Qiu ist ein Veteran der Revolution», sagte der Wantan-Verkäufer «Er bewacht den Heldenfriedhof von Jiuguo.»
    «Kein Wunder», sagte Ding Gou'er.
    «Und du?», fragte der alte Revolutionär.
    «Ich bin Ermittler bei der Oberstaatsanwaltschaft.»
    «Zeig mal deinen Ausweis.»
    «Den hat man mir gestohlen.»
    «Für mich siehst du aus wie ein Ausbrecher. »
    «Ich weiß, dass ich so aussehe. Aber ich bin keiner.»
    «Kannst du das beweisen?»
    «Du kannst den Parteisekretär der Stadt oder die Bürgermeisterin oder den Polizeipräsidenten oder den Oberstaatsanwalt anrufen und fragen, ob sie einen Sonderermittler namens Ding Gou'er kennen.»
    «Sonderermittler?» Der alte Mann konnte ein Kichern nicht unterdrücken. «Wo haben die bloß einen Hundedreck von Sonderermittler wie dich hergenommen?»
    «Es war eine Frau, die mich zu Fall gebracht hat», sagte Ding Gou'er. Er hatte einen Witz über sich selbst machen wollen, aber der tiefe Schmerz, den sein Eingeständnis hervorrief, überraschte ihn. Er ging vor dem Wantan-Stand in die Knie und fing an, sein blutiges Haupt mit den blutigen Fäusten zu malträtieren und zu wimmern: «Eine Frau hat mich zu Fall gebracht, eine Frau, die mit einem Zwerg geschlafen hat …»
    Der alte Revolutionär trat näher, stieß Ding Gou'er seine Flinte in den Rücken und herrschte ihn an: «Arsch hoch! Bewegung, verdammt nochmal!»
    Durch einen Tränenschleier blickte Ding Gou'er zu dem dunklen, ovalen Gesicht des alten Revolutionärs auf wie jemand, der in der Fremde einen Freund aus der alten Heimat getroffen hat, wie ein Untergebener, der zu seinem Vorgesetzten aufblickt, oder – und dies ist die passendste Beschreibung – wie ein Sohn, der nach vielen Jahren zum ersten Mal seinen Vater wieder sieht. Von seinen Gefühlen überwältigt, umklammerte er die Beine des alten Revolutionärs und flüsterte unter Tränen: «Großvater, ich bin ein nutzloser Sack voll Scheiße, der sich von einer Frau hat zu Fall bringen lassen …»
    Der alte Revolutionär packte Ding Gou'er am Kragen und zog ihn auf die Beine. Seine tief liegenden glänzenden Augen bohrten sich etwa so lange gnadenlos in das Gesicht seines Gegenübers, wie man braucht, um eine Pfeife zu rauchen. Dann spuckte er aus, zog die Pistole aus dem Gürtel und warf sie ihm vor die Füße. Anschließend drehte er sich um und verschwand wortlos. Der große gelbe Hund folgte seinem Herrn ebenso stumm. Sein feuchter Pelz glänzte wie ein Mantel von winzigen Perlen.
    Der Wantan-Verkäufer legte die glänzende Patrone neben die Pistole, faltete seinen Stand zusammen, drehte die Karbidlampe herunter, nahm seine ganze Ausrüstung auf die Schulter und verschwand geräuschlos in der Finsternis.
    Ding Gou'er stand wie versteinert im Dunkel der Nacht und sah hinter dem Mann her, bis er nur noch den fahlen Schein der Lampe ausmachen konnte, die wie ein Irrlicht flackerte. Das dichte Laub des Gingkobaums schützte ihn vor dem Regen. Das Rauschen der Blätter klang jetzt, wo die anderen gegangen waren und das Licht mit sich genommen hatten, lauter. Er war verwirrt und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Immerhin dachte er daran, seine Pistole und die Patrone aufzuheben. Die Nachtluft war kalt und feucht, und sein ganzer Körper schmerzte. Er war ein Fremder in der Fremde. Ihm war, als sei der Tag des Gerichts über ihn hereingebrochen.
    Der durchbohrende Blick des alten Revolutionärs hatte ihm nur zu deutlich gezeigt, dass er als Ermittler nicht viel taugte. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, dem Veteranen der Revolution sein Herz auszuschütten.

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