Die Schnapsstadt
Kiefern kann ich in den paar Jahren, die mir bleiben, schon verbrauchen? Ich sage dir eins: Wenn der König der Hölle auf die Erde käme, könnte er mich nicht daran hindern, mit Kiefernholz zu heizen.»
Er gestikulierte wild mit den Armen, der Speichel lief ihm aus dem Mund. Der alte Mann geriet zusehends in Wut. «Was hast du gerade gesagt? Irgendwas von Leuten, die kleine Kinder fressen? Kannibalen? Die sind schlimmer als Tiere! Wer sind sie? Morgen ziehe ich los und bringe jeden Einzelnen von ihnen um. Ich werde sie erst erschießen und meinen Bericht später abgeben. Schlimmstenfalls kriege ich eine Abmahnung. Ich habe in meinem Leben Hunderte von Menschen umgebracht. Es waren alles Verbrecher – Verräter, Konterrevolutionäre, Aggressoren –, und jetzt auf meine alten Tage wird es höchste Zeit, dass ich ein paar Menschen fressende Tiere umbringe!»
Ding Gou'er juckte es am ganzen Leib. Seine Kleider rochen nach feuchter, dunstiger Asche. «Das ist der Fall, in dem ich hier ermitteln soll», sagte er.
«Was heißt hier ermitteln?», krähte der alte Revolutionär. «Abführen und erschießen, sage ich! Ermittlungen sind Scheiße.»
«Großvater, heutzutage leben wir unter der Herrschaft der Gesetze. Du kannst nicht einfach losziehen und ohne alle Beweise Leute erschießen.»
«Dann sieh zu, dass du mit deinen Ermittlungen vorankommst! Was treibst du dich hier rum? Was ist aus deinem Klassenbewusstsein geworden? Was ist mit deiner Arbeitsmoral? Der Feind steht vor den Toren und frisst Kinder, und du machst es dir hier drin im Warmen gemütlich. Jede Wette, du bist ein Trotzkist! Ein Mitglied der Bourgeoisie! Ein Lakai des Imperialismus!»
Die wütenden Beschimpfungen des alten Revolutionärs rissen Ding Gou'er aus seiner träumerischen Starre, als hätte man ihm Hundeblut über den Kopf gegossen. Brennende Hitzewellen erfassten sein Herz. Er riss sich die Kleider vom Leibe, bis er nackt, nur noch mit seinen abgetragenen Schuhen bekleidet, dastand. Er kauerte sich vor das Herdfeuer, stocherte in der Glut und warf ein paar ölige Kiefernzweige dazu. Weißer, nach Kiefern duftender Rauch stieg ihm in die Nase. Er musste niesen. Er fühlte sich wohl. Er spannte seine Kleider über ein paar Holzstücke und hielt sie zum Trocknen vors Feuer. Die Kleider zischten wie ein stinkendes Eselsfell. Das Feuer wärmte auch seine nackte Haut. Es juckte ihn, und er musste sich kratzen. Je mehr er sich kratzte, desto besser fühlte er sich.
«Hast du die Krätze, oder was ist los mit dir?», fragte der alte Revolutionär. «Ich habe auch mal die Krätze gehabt, als wir in einem Heuschober übernachtet hatten. Der ganze Trupp hat sie gekriegt. Ob es gejuckt hat? Wir haben uns gekratzt, bis wir bluteten. Es hat nichts geholfen. Es hat, verdammt nochmal, sogar von innen gejuckt, und schließlich waren wir nicht mehr einsatzfähig. Dann hat der stellvertretende Anführer der Einheit Nummer acht, Ma Shan, eine geniale Idee gehabt. Er hat ein Bund Lauchzwiebeln und Knoblauch gekauft, sie zu einer Paste zerrieben, Salz und Essig dazugetan und uns den ganzen Körper damit eingerieben. Es hat gebrannt wie die Hölle, es hat die Haut betäubt, es hat sich angefühlt wie ein Hund, der seine Eier kratzt. Ich habe noch nie so etwas Großartiges erlebt. Auf einmal waren die ganzen ekligen kleinen Dinger verschwunden. Und das mit einem einfachen Hausmittel. Wenn du krank wirst, muss die Regierung für dich sorgen. So geht das. Ich habe mich freiwillig gemeldet und für die Revolution gekämpft. Eigentlich sollte die Regierung für mich sorgen …»
Der Ermittler spürte eine leichte Bitterkeit, einen nörgelnden Tonfall hinter den Worten des alten Revolutionärs, eine Geschichte von revolutionären Mühen und Leiden. Was er als die Chance gesehen hatte, einem anderen sein Herz auszuschütten, war für den Veteranen zu einer Gelegenheit geworden, eine Litanei von Beschwerden an den Mann zu bringen. Enttäuscht stand er an der Schwelle zur Einsicht, dass niemand einen anderen retten kann, dass jeder seine eigenen Probleme hat und dass es nichts nutzt, über Probleme zu reden: Der Bauch des Hungrigen bleibt so leer wie zuvor, der Mund des Durstigen so trocken wie zuvor. Er schüttelte seine Kleider aus, klopfte den eingetrockneten Schlamm ab und zog sich an. Der heiße Stoff wärmte seine Haut und trug ihn in den siebten Himmel. Aber jetzt, wo er ein Minimum an Bequemlichkeit wiedergefunden hatte, wuchsen seine seelischen Qualen
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