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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Was war die geheimnisvolle Macht, die einen harten Mann, der Nägel fressen und Sprungfedern scheißen konnte, in Minutenfrist in einen räudigen Hund verwandelte? War es möglich, dass eine Frau von durchschnittlicher Attraktivität diese Macht besaß? Die Antwort lautete: Nein. Und deshalb konnte er ihr nicht die Alleinschuld geben. Hier ging irgendetwas Geheimnisvolles vor, und der alte Mann, der mit seinem Hund durch die Nacht strich, stand im Mittelpunkt des Geheimnisses. Ding Gou'er ahnte, dass sich in diesem länglichen Kopf große Weisheit verbarg, und er machte sich auf den Weg, um nach ihr zu suchen.
    Auf steifen Beinen machte sich Sonderermittler Ding Gou'er in die Richtung auf den Weg, in die der alte Mann mit seinem Hund verschwunden war. Aus weiter Ferne konnte man das Brummen der Nachttransporter hören, die über eine Stahlbrücke rollten, ein gleichmäßiges Summen und Klopfen, das die Nacht und ihr Geheimnis noch tiefer erscheinen ließ. Die Straße hob und senkte sich unter seinen Füßen, und auf dem Gipfel eines besonders steilen Hügels setzte er sich auf den Boden und ließ sich hinunterrutschen. Als er aufblickte, sah er im Schein einer Straßenlaterne einen Haufen zerbrochener Backsteine. Wie eine Bettdecke lag weißer Reif über dem Haufen. Noch ein paar Schritte, und er stand vor einem alten schmiedeeisernen Tor. Eine Kerze in einem Fenster über der Brüstung beleuchtete das Tor und das weiße Schild, auf dem rote Schriftzeichen verkündeten:
     
    HELDENFRIEDHOF VON JIUGUO
     
    Er stürzte zum Tor und hielt sich an den eisernen Gitterstäben fest wie ein Mann im Gefängnis. Die rauen Stäbe scheuerten die Haut auf seinen Händen auf. Der große gelbe Hund kam angerannt und bellte wütend, aber der Ermittler hielt die Stellung. Dann ließ sich hinter der Friedhofsmauer die raue, kräftige Stimme des alten Revolutionärs vernehmen. Der Hund hörte auf zu bellen und herumzuspringen, ließ den Kopf hängen und wedelte mit dem Schwanz. Der alte Revolutionär tauchte mit geschultertem Gewehr vor Ding Gou'er auf. Die Messingknöpfe auf dem Uniformmantel kündeten von seiner Befehlsgewalt.
    «Was, zum Teufel, willst du denn hier?», fragte er streng.
    Verschnupft antwortete Ding Gou'er unter Tränen: «Großvater, ich bin wirklich Sonderermittler bei der Oberstaatsanwaltschaft der Provinz.»
    «Und was willst du hier?»
    «Ich muss in einer schwer wiegenden Angelegenheit ermitteln.»
    «Und was für eine schwer wiegende Angelegenheit soll das sein ?»
    «Eine Bande von kannibalischen Funktionären in Jiuguo kochen und essen Säuglinge.»
    «Ich werde sie allesamt umbringen.»
    «Nicht so eilig, Großvater. Lass mich rein, und ich erzähle dir alles.»
    Der alte Revolutionär öffnete eine kleine Seitentür. «Quetsch dich hier durch», sagte er.
    Ding Gou'er zögerte, weil er ein paar dünne gelbe Haare im Türrahmen entdeckt hatte.
    «Kommst du jetzt rein oder nicht?»
    Ding Gou'er bückte sich und quetschte sich durch die Tür.
    «Ein Fettwanst wie du nimmt es eben nicht mit meinem Hund auf.»
    Als Ding Gou'er dem alten Mann in die Wächterloge folgte, musste er an das Torhaus der Zeche Luoshan und den Pförtner mit dem wilden rauen Haarschopf denken.
    Die Wächterloge war hell beleuchtet. Die Wände waren schneeweiß gestrichen. Ein beheiztes Backsteinbett nahm die Hälfte des Raums ein. Eine Wand so breit wie das Bett trennte es von einem Herd, auf dem ein Kochtopf stand. Kiefernspäne loderten unter dem Herd und füllten die Luft mit ihrem Dunst.
    Der alte Revolutionär nahm das Gewehr von der Schulter und hängte es an die Wand, zog den Mantel aus und warf ihn aufs Bett und rieb sich die Hände.
    «Genug Brennholz und ein geheiztes Bett sind meine einzigen Privilegien.» Er sah Ding Gou'er an und fragte: «Nach Jahrzehnten der Revolution und mit sieben oder acht Narben so groß wie Reisschalen, meinst du nicht, dass ich mir das verdient habe?»
    Die Wärme hatte Ding Gou'er beruhigt, und jetzt stand er kurz vor dem Einschlafen. «Aber sicher hast du das verdient», antwortete er.
    «Dieser korrupte Schweinehund, Abteilungsleiter Yu, will, dass ich mit Akazienholz statt mit Kiefernholz heize. Ich habe mein ganzes erwachsenes Leben der Revolution gewidmet. Einer von diesen japanischen Teufeln hat mir sogar die Schwanzspitze abgeschossen. Ich werde niemals Söhne und Enkel haben. Was soll's also, wenn ich in meinem Alter ein bisschen Kiefernholz verbrenne? Ich bin schon über achtzig. Wie viele

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