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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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tragischen Helden standen ihm in den Augen.
    «Was, zum Teufel, ist mit dir los?», fragte der alte Revolutionär verächtlich.
    Der Ermittler wischte sich schnell die Augen am Ärmel ab und stieß ein verlegenes trockenes Lachen aus.
    Nach seinen wilden Tagträumen spürte er tiefe Risse, die sich unter der melancholischen Oberfläche seines Gemüts auftaten. Sein Geist war erschöpft, schwer und lastend. In seinen Ohren stand ein dumpfes, beständiges Dröhnen.
    «Sieht aus, als hättest du eine verdammte Erkältung», sagte der alte Revolutionär. «Dein Gesicht ist so rot wie der Arsch eines Affen.»
    Der alte Revolutionär griff in den Heizschacht unter dem Bett und zog eine weiße Flasche mit roter Aufschrift und einer roten Schärpe hervor. Er schwenkte sie vor den Augen seines Gastes. «Das wird helfen. Der Alkohol tötet die Viren ab und vertreibt das Gift aus deinem Körper. Alkohol ist eine gute Medizin gegen alles, woran du leidest. Damals, als ich mit Mao Zedong viermal den Roten Fluss überquert habe, sind wir zweimal durch den Ort Maotai gekommen. Ich konnte nicht mehr weiter, weil ich Malaria hatte. Also versteckte ich mich in einer Brennerei. Als die weißen Banditen der Guomindang das Feuer eröffneten, bin ich vor Angst beinah gestorben. Dann sagte ich mir: Trink, damit die Furcht vergeht! Also habe ich – gluck, gluck – drei Schälchen Maotai geschluckt. Das hat mich nicht nur beruhigt, sondern ich gewann gleich neuen Mut und hörte auf zu zittern. Ich habe mir ein Brett gegriffen, bin auf den Platz vor der Brennerei gerannt und habe zwei von den Weißen Banditen totgeprügelt. Dann habe ich ihre Gewehre expropriiert und mich wieder Maos Truppen angeschlossen. Damals haben sie alle Maotai getrunken: Mao Zedong, Zhu De, Zhou Enlai, Wang Jiaxiang, einfach alle. Wenn Mao Maotai getrunken hatte, war sein Kopf voll von Plänen und Strategien. Ohne ihn wäre unsere kleine Truppe von Kämpfern schnell aufgerieben worden. Man kann also sagen, dass Maotai eine entscheidende Rolle in der chinesischen Revolution gespielt hat. Meinst du etwa, Maotai sei rein zufällig zum Nationalgetränk unseres Volkes geworden? Nicht im Geringsten: Maotai hält das Andenken an die Revolution wach. Und nach einem Leben, das der Revolution gewidmet war, sollte ich wohl auch ein bisschen Maotai trinken dürfen. Aber dieser Schweinehund, Abteilungsleiter Yu, will mir meinen gesamten Vorrat wegnehmen und durch – wie hieß das Zeug noch? – Hengst mit Roter Mähne ersetzen. Von mir aus kann er das Zeug seiner Großmutter in den Arsch schütten.»
    Der alte Revolutionär goss ein bisschen Schnaps in einen angeschlagenen Steingutbecher, warf den Kopf zurück und ließ die Flüssigkeit durch die Kehle rinnen. «Jetzt bist du dran», sagte er. «Echter Maotai, echt bis zum letzten Tropfen.»
    Er sah die Tränen in Ding Gou'ers Augen. Mit verächtlicher Miene sagte er: «Hast du Angst? Nur Abtrünnige und Verräter haben Angst zu trinken. Sie haben Angst, sie könnten sich betrinken und die Wahrheit sagen oder ein paar Geheimnisse verraten. Bist du ein Abtrünniger? Bist du ein Verräter? Nein? Warum hast du dann Angst?»
    Er trank noch einen Becher. Gurgelnd lief der Schnaps durch seine Kehle. «Keine Angst, ich werde dich schon nicht zwingen. Du glaubst doch nicht, ich sei mühelos an das bisschen Maotai gekommen. Dieser Trotzkist, Abteilungsleiter Yu, beobachtet mich wie ein Falke. Auf dem Boden ist der Phönix weniger wert als ein Huhn, und in der Ebene fällt der Tiger den Hunden zur Beute.»
    Der Schnapsduft erwies sich für Ding Gou'er als unwiderstehlich. Stunden der großen Gefühle sind dazu da, guten Schnaps zu trinken. Er riss dem alten Revolutionär den Becher aus der Hand, hob ihn an die Lippen, atmete tief durch und ließ den Schnapsstrom direkt in den Magen laufen. Vor seinen Augen erblühte rosenfarbener Lotos, verbreitete sein der Denkfähigkeit förderliches Licht und vertrieb den Nebel, der ihn umgab. Es war das Licht des Maotai, die Seele des Maotai. In Sekundenbruchteilen sah er, wie die ganze Welt in unermesslicher Schönheit erstrahlte: Himmel und Erde und Bäume und den jungfräulichen Schnee auf den Gipfeln des Himalaja. Zufrieden lachend nahm der alte Revolutionär seinen Becher zurück und füllte ihn aufs Neue. Gurgelnd lief der Schnaps aus dem Flaschenhals. Ding Gou'er klangen die Ohren, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Das Gesicht des alten Revolutionärs strahlte unerschöpfliches

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