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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Wohlwollen aus. Als der Ermittler nach der Flasche griff, hörte er sich selbst rufen: «Mehr! Ich will mehr!»
    Der alte Revolutionär sprang munter wie ein junger Mann vor ihm auf und ab und sagte: «Nein. Mehr kriegst du nicht. Das Zeug ist schwer genug zu beschaffen.»
    «Ich will aber mehr», brüllte er. «Ich will mehr. Du warst es, der die Schlange der Gier in meinem Herzen geweckt hat. Warum gibst du mir keinen Maotai mehr?»
    Der alte Revolutionär goss noch einen Becher herunter. Wutschäumend griff Ding Gou'er nach dem Becher, den der andere noch fest am Henkel hielt. Er hörte das Knirschen von Zähnen auf Steingut und fühlte die Nässe auf seiner Haut, als der kalte Schnaps über seinen Handrücken floss. Der Kampf um den Becher machte ihn immer wütender. Wie von selbst erinnerte sich sein Knie an einen alten Trick, den ihm seine Kumpel beigebracht hatten. Mit nach hinten abgespreiztem Unterschenkel rammt man dem Feind das Knie zwischen die Beine. Er hörte den Aufschrei des alten Revolutionärs, und der Becher blieb in seiner Hand. Gierig schüttete er sich den Schnaps in den Mund. Er hatte immer noch nicht genug und suchte nach der Flasche, die umgekippt auf dem Boden lag wie ein schönes junges Schlachtopfer. Plötzlich überfiel ihn untröstlicher Kummer, als habe er den schönen jungen Mann getötet. Er wollte sich bücken und die weißhäutige Flasche mit ihrer roten Schärpe aufheben – dem schönen jungen Mann auf die Beine helfen. Unerklärlicherweise fiel er auf die Knie. Und der schöne junge Mann rollte an der Wand entlang in eine Ecke, richtete sich auf und wurde größer und größer, bis er mehr als einen Meter hoch war und aufhörte zu wachsen. Der Ermittler wusste, dass der junge Mann, der in der Ecke stand und ihm zulächelte, der Weingeist war, der Geist des Alkohols – der Geist des Maotai. Er sprang auf, um danach zu greifen, aber er schlug nur mit dem Kopf gegen die Wand.
    Er gab sich ganz dem Gefühl der Schönheit von Himmel und Erde hin, die sich um ihn drehten. Da spürte er, wie eine große kalte Hand ihn an den Haaren packte. Er ahnte, wem die Hand gehörte. Er folgte dem Schmerz in seiner Kopfhaut nach oben. Sein Körper fühlte sich an wie ein Haufen Schweinedärme, die über den Boden glitten und rutschten, kalte, glitschige, verknäulte, unsäglich stinkende Schweinedärme, die jetzt entknäult und gerade gezogen wurden, obwohl er wusste, dass der Haufen Schweinedärme in dem Augenblick, in dem der alte Revolutionär ihn losließ, wieder patschnass in sich zusammensinken würde.
    Die große Hand drehte ihn um, und er sah dem alten Revolutionär in das dunkle Gesicht. Das wohlwollende Lächeln war einem starren bösen Blick gewichen. Die kaltblütige Qualität des Widerspruchs zwischen den Klassen und das eherne Gebot des Klassenkampfs traten wieder in ihre Rechte ein. Du konterrevolutionäres Arschloch, du! Ich gebe dir meinen Schnaps, und du zahlst es mir heim, indem du mir in die Eier trittst! Du bist ein Hund. Du bist schlimmer als ein Hund. Wenn ein Hund meinen Schnaps trinkt, wedelt er mit dem Schwanz, um seine Dankbarkeit zu zeigen. Der alte Revolutionär besprühte ihn mit Spucke. Seine Augen brannten so schlimm, dass er vor Schmerzen aufschrie. Zwei große Pranken landeten auf seiner Schulter. Der Hund hatte seinen Hals im Maul, sein borstiger Pelz stach ihn in die Haut. Unwillkürlich zog er den Hals ein wie eine Schildkröte in Gefahr. Er spürte den heißen Atem des Hundes und roch seinen sauren Gestank. Plötzlich kehrte das Gefühl, er sei ein Haufen ineinander verknäulter Schweinedärme, wieder, und in seinem Herzen entbrannte weiß glühender Schrecken. Hunde schlürfen Schweinedärme, wie ein Kind Reisnudeln schlürft. Entsetzt schrie er auf. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.
    Viel, viel später – wie viel später, wusste er nicht – öffnete der Ermittler, der geglaubt hatte, der Hund habe ihm das Augenlicht geraubt, seine Augen wieder. Licht fiel ihm entgegen wie die Sonne, die hinter den Wolken hervorbricht, und dann fiel ihm – peng! – alles, was es in der Wächterloge des Heldenfriedhofs von Jiuguo zu sehen gab, auf einmal in den Blick. Er sah den alten Revolutionär, der unter einer Lampe saß und seine doppelläufige Schrotflinte polierte. Er war ganz in seine Aufgabe versunken und arbeitete so ernsthaft und gründlich wie ein Vater, der seine einzige Tochter badet. Der gelbe Jagdhund lag faul vor dem Kochherd auf dem Boden. Seine

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