Die Schnapsstadt
lange Schnauze ruhte auf einem Haufen Kiefernholz, und er sah nachdenklich in die süß duftenden goldenen Flammen wie ein meditierender Philosophieprofessor. Über was dachte er nach? Den Ermittler faszinierte der Hund, der so tief in seine Gedanken versunken war. Der Hund sah gebannt in die Flammen. Ding Gou'er sah gebannt dem Hund zu. Langsam nahm das strahlend helle Bild im Kopf des Hundes – ein Bild, das er nie zuvor gesehen hatte – in seinem eigenen Kopf Gestalt an. Dazu erklang eine seltsame und tief bewegende Musik: der Klang treibender Wolken. Er war zutiefst gerührt. Seine Nase pulsierte, als habe sie einen Zusammenstoß mit einer Faust gehabt und sei nicht Siegerin geblieben. Zwei Tränenspuren liefen über seine Wangen.
«Aus dir ist wirklich nicht viel zu machen», sagte der alte Revolutionär und sah ihn skeptisch an. «Wir säen Tiger und Wölfe und ernten rotzige kleine Würmer.»
Wieder trocknete er sich die Augen am Ärmel und versuchte, Verständnis zu finden. «Großvater», sagte er, «es war eine Frau, die mich zu Fall gebracht hat …»
Mit enttäuschter Miene zog der alte Revolutionär seinen dicken Mantel an, schulterte sein Gewehr und rief seinen treuen Gefährten zu sich: «Komm, Hund! Wir machen jetzt unsere Runde und überlassen diesen unwürdigen Schwächling seinen Tränen.»
Der Hund stellte sich träge auf die Pfoten, warf dem Ermittler einen mitleidigen Blick zu und folgte dem alten Revolutionär nach draußen. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Aber noch ehe sie ganz geschlossen war, wehte feuchter, eiskalter Nachtwind in die Wächterloge und ließ den Ermittler erschauern. Einsamkeit und Furcht überfielen ihn. «Wartet auf mich», rief er, riss die Tür auf und jagte hinter den beiden her.
Das elektrische Licht über dem Tor verwandelte den Wächter und seinen Hund in Schattengestalten. Kalter Regen fiel mit unvermindert klarem Trommeln. Vielleicht war das so, weil die Nacht jetzt weiter fortgeschritten war. Statt den Friedhof durch das Haupttor zu verlassen, machte sich der alte Revolutionär auf den Weg durch die traurige Finsternis im Herzen des Friedhofs. Der Hund folgte ihm auf dem Fuß. Der Ermittler folgte dem Hund. Eine Zeit lang konnte man im Licht der Lampe über dem Tor die Schatten der Zypressen ausmachen, die, in Pagodenform geschnitten, zu beiden Seiten des schmalen gepflasterten Weges standen. Aber bald wurden auch sie von der zunehmenden Dunkelheit verschlungen. Jetzt wusste er, was es heißt, wenn jemand sagt, man könne die Hand nicht vor den Augen sehen. Je dunkler es wurde, desto lauter trommelte der Regen auf die Bäume. Das harte, chaotische Trommeln stürzte seinen Geist erst in Aufruhr und leerte ihn dann von jedem Inhalt. Nur die Geräusche und Gerüche vor ihm sprachen von dem alten Revolutionär und seinem gelben Hund. Dunkelheit kann so schwer sein, dass sie einen Menschen platt drückt. Die Angst ließ den Ermittler nicht mehr los. Er konnte die Ausdünstungen der Heldengräber hinter den grünen Kiefern und smaragdfarbenen Zypressen riechen. Die Bäume erschienen ihm wie Wachtposten, die mit geraden Schultern dastanden. In ihrem Antlitz stand ein böses Grinsen und in ihrem Herzen finstere Absichten. Sie waren ihm feindlich gesinnt. Leicht wie Federn saßen die Geister der tapferen Verstorbenen am Fuß der Bäume auf ihren von Unkraut überwucherten Gräbern. Der Schrecken machte ihn nüchtern. Mit schweißnasser Hand griff er nach seiner Pistole. Ein unheimliches Kreischen zerriss die Dunkelheit. Dann bewegten sich dumpfe Flügelschläge an ihm vorbei. Ein Vogel, nahm er an, aber was für ein Vogel? Vielleicht eine Eule. Der alte Revolutionär hustete, der Hund bellte. Die beiden fest in der Welt der Sterblichen verankerten Geräusche trösteten den Ermittler ein wenig. Er hüstelte und merkte selbst, wie unecht sein Husten klang. Weiter vorne in der Finsternis lacht mich der alte Revolutionär aus, nahm er an. Und sein philosophischer Lakai von einem Hund tut das Gleiche. Im Dunkel sah er zwei grüne Lichter, und wenn er nicht gewusst hätte, dass es ein Hund war, hätte er geschworen, die Augen gehörten einem Wolf. Er konnte einen Hustenanfall nicht unterdrücken. Ein Lichtstrahl blendete ihn. Er schlug die Hände vor die Augen und wollte sich beschweren, als der Lichtstrahl sich weiterbewegte und auf einen weißen Grabstein fiel. Die Schriftzeichen auf dem Stein sahen ganz neu aus und waren knallrot, aber die leuchtende Farbe blendete
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