Die Schnapsstadt
sein. Die natürliche Entstehung von Alkohol und das erste Auftreten zuckerhaltiger Pflanzen haben wahrscheinlich gleichzeitig stattgefunden. Also kann man wohl sagen, dass die Erde, schon bevor es Menschen gab, von Alkoholdünsten umweht war.
Wann also haben die Menschen wirklich angefangen, Alkohol zu destillieren? Die Antwort auf diese Frage liegt in der menschlichen Entdeckung, dass es natürlich fermentierten Alkohol gibt. Die Kühnsten oder diejenigen, die vor Durst beinah gestorben wären, tranken den Alkohol aus den Felsmulden oder den Vogelnestern. Als sie dieses wunderbare Lebenselixier einmal geschmeckt und dabei großes Vergnügen empfunden hatten, machten sie sich auf die Suche nach weiteren Mulden zwischen den Felsen und Vogelnestern. Die Motivation dazu, selbst Alkohol herzustellen, entstand auf natürliche Weise, nachdem sie allen Alkohol getrunken hatten, den sie finden konnten. Der Motivation folgte die Imitation. Sie imitierten die Affen, indem sie Früchte in Mulden oder Vogelnester warfen. Aber sie waren nicht immer erfolgreich. Manchmal vertrockneten die Früchte, und manchmal verfaulten sie einfach. Immer wieder gaben die Menschen enttäuscht den Versuch auf, von den Affen zu lernen, aber immer wieder trieb sie die überwältigende Verführungskraft des Elixiers dazu, all ihren Mut zusammenzunehmen und das Experiment von neuem zu beginnen. Schließlich war das Experiment erfolgreich, und mit der Hilfe der Natur entstand ein fruchtiger Likör. In Ekstase tanzten sie nackt um das Feuer in ihren Höhlen. Dieser Lernprozess, der sie befähigte, Alkohol herzustellen, trat zeitgleich mit der Beherrschung der Kunst auf, Nutzpflanzen anzubauen und Tiere zu domestizieren. Als Getreide den Platz von Fleisch und Fisch als Hauptnahrungsmittel einnahm, begannen sie, mit der Fermentation von Getreide zu experimentieren. Die Motivation für diese Experimente mag zufällig gewesen sein oder auf einen göttlichen Eingriff in die Menschheitsgeschichte zurückgehen. Aber als der erste Tropfen Schnaps sich aus dem Dampf kondensierte, der sich in einem Brenngefäß auf Ton gesammelt hatte, begann eine neue, ruhmreiche Epoche der menschlichen Geschichte. Dies war der Anfang des Zeitalters der Zivilisation.
Und damit ist die Vorlesung beendet, erklärte mein Schwiegervater.
Nachdem die Vorlesung beendet war, stürzte mein Schwiegervater den übrigen Schnaps aus seinem Flachmann herunter und schmatzte mehrmals genüsslich. Dann steckte er die Flasche in die Tasche, nahm die Aktentasche unter den Arm und verließ, nachdem er mir einen bedeutungsschweren Blick zugeworfen hatte, mit erhobenem Kopf und stolzgeschwellter Brust den Hörsaal.
Vier Jahre später legte ich mein Abschlussexamen an der Brauereihochschule ab und begann unter der Betreuung meines Schwiegervaters die Arbeit an meiner Dissertation. Der Titel meiner Abschlussarbeit war «Die Romane des lateinamerikanischen ‹magischen Realismus› und die Alkoholdestillation». Mein Schwiegervater zollte ihr hohes Lob, und auch die mündliche Prüfung bestand ich mühelos. Die Arbeit wurde sogar den Veröffentlichungen der Brauereihochschule vorgelegt und dort als Themenartikel veröffentlicht. Mein Schwiegervater nahm mich als Doktoranden an und stimmte meinem selbst gewählten Forschungsgebiet gerne zu: Wie manifestieren sich die Gefühle des Brenners in der Physik und Chemie des Destillationsprozesses und wie beeinflussen sie den Geschmack des Destillats? Mein Schwiegervater hielt diesen Forschungsschwerpunkt mit seinem neuen Untersuchungsaspekt sowohl für höchst bedeutsam als auch für höchst interessant. Er schlug vor, ich solle ein Jahr in der Bibliothek verbringen, alle einschlägigen Bücher lesen und zusätzliches Material sammeln und mich dann daranmachen, meine Doktorarbeit zu schreiben.
Ich folgte dem Ratschlag meines Schwiegervaters und stürzte mich mit Herz und Seele in meine Studien in der Stadtbibliothek von Jiuguo. Eines Tages stieß ich auf ein seltenes Buch mit dem Titel Denkwürdigkeiten der Schnapsstadt, in dem ich einen Bericht fand, der mich besonders interessierte. Ich empfahl ihn meinem Schwiegervater. Wie konnte ich ahnen, dass dieser Bericht einen so tiefen Eindruck auf ihn machen würde, dass er sich auf den Weg zum Berg des Weißen Affen machte, um dort unter den Affen zu leben? Ich zitiere im Folgenden den vollständigen Text. Lesen Sie ihn, wenn Sie Lust dazu haben, überschlagen Sie ihn, wenn nicht.
In Jiuguo lebte
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