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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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an und fragte: «Heißt du Saxian?» Der Holzfäller sagte: «Ja.» Sun sagte: «Ich bin dein Vater.» Als Kind hatte der Holzfäller gehört, sein Vater sei ein Trunkenbold gewesen, der ins Gebirge ging und dort starb. Er war überrascht und verwirrt, als er an diesem Tag seinen Vater traf. Der alte Sun berichtete von seinen Abenteuern und erzählte von Dingen, die sich in der Vergangenheit in der Familie abgespielt hatten. Schließlich glaubte der Holzfäller dem alten Mann und bat ihn, mit ihm ins Dorf zurückzukommen, damit er für ihn sorgen könne. Aber der alte Mann lachte und sagte: «Hast du in deinem Haus einen Schnapsteich, aus dem ich trinken kann, soviel ich will?» Er bat seinen Sohn zu warten, schwang sich wie ein gelenkiger Affe von Ranke zu Ranke durch die Baumwipfel und verschwand. Nach kurzer Zeit kam er mit einem Bambusrohr zurück, dessen Enden mit purpurfarbenen Blüten verschlossen waren. Er gab es seinem Sohn und sagte: «In dem Bambusrohr ist Affenschnaps. Er ist gut für die Gesundheit und verleiht ein jugendliches Aussehen.»
    Sein Sohn nahm das Bambusrohr mit nach Hause, öffnete das Siegel und schüttete den Inhalt in ein Becken. Es war eine dunkelblaue Flüssigkeit, so blau wie Indigo, mit einem starken vollen Duft, wie es ihn in der Menschenwelt kein zweites Mal gibt. Da er ein pietätvoller Sohn war, füllte der Holzfäller eine Flasche mit der Flüssigkeit und gab sie seinem Schwiegervater. Der wiederum gab sie seinem Herrn, einem Grundbesitzer namens Liu. Herr Liu sah den Schnaps und war höchst erstaunt. Er fragte, wo er herkomme. Der Knecht erzählte Herrn Liu, was sein Schwiegersohn ihm erzählt hatte. Herr Liu erstattete dem Gouverneur der Provinz Bericht, und der schickte ein Dutzend Leute los, um den Wald zu durchsuchen. Sie suchten mehrere Monate lang, aber sie fanden nur moosüberwucherte Bäume und Dornengestrüpp und kehrten unverrichteter Sache heim.
     
    Als ich diese Geschichte las, hatte ich das Gefühl, einen seltenen Schatz entdeckt zu haben. Auf dem Fotokopierapparat am Eingang der Bibliothek machte ich schnell eine Kopie für meinen Schwiegervater. Das war an einem Abend vor drei Jahren. Als ich bei meinen Schwiegereltern ankam, saßen sie beim Abendessen und stritten sich. Draußen tobte ein Gewitter mit Donner und Blitz. Blau leuchtende Blitze schienen wie Peitschenhiebe gegen das klirrende Fensterglas zu schlagen. Ich schüttelte mir den Regen aus dem Haar. Hagelkörner und Regentropfen waren mir schmerzhaft auf die Nase geprallt, und die Tränen standen mir in den Augen. Meine Schwiegermutter blickte kurz auf und sagte in unfreundlichem Ton:
    «Eine verheiratete Tochter ist wie verschüttetes Wasser: Sie kommt nicht mehr zurück. Ihr könnt eure Probleme allein lösen. Hier ist nicht das Amtsgericht.»
    Sie ging offensichtlich von falschen Voraussetzungen aus, aber es gelang mir nicht, das Missverständnis aufzuklären. Ich musste krampfartig und laut niesen. Ich hörte meine Schwiegermutter vorwurfsvoll sagen:
    «Gehörst du also auch zu den Männern, die den Alkohol ernster nehmen als ihre Frau? Bist du …»
    Damals verstand ich nicht, wovon sie redete, aber natürlich weiß ich es jetzt. Damals sah ich nur eine unzufriedene Frau mit rot angelaufenem Gesicht und einem Herzen voller Hass. Ich hatte geglaubt, sie spreche mit mir, aber ihre kalten zornigen Schlangenaugen waren starr auf meinen Schwiegervater gerichtet. Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, der einen anderen so ansah, und noch heute fährt ein kühler Windhauch über mein Herz, wenn ich daran denke.
    Mein Schwiegervater saß aufrecht und würdevoll, wie es sich für einen Hochschullehrer gehört, am Esstisch. Im warmen Licht der Lampe glich sein graues Haar den feinen Fäden, wie sie die Seidenraupe spinnt, wenn sie sich verpuppt. Mit jedem blaugrauen Blitz, der vor dem Fenster aufleuchtete, verwandelte es sich in Stränge von kalten grünen Sojanudeln. Er kümmerte sich nicht um meine Schwiegermutter und trank allein weiter. Was er trank, war Champagner, die «französische Witwe», eine goldene Flüssigkeit so kühl und glatt wie der weiße Busen eines Mädchens aus dem Westen. Die Perlen im Glas stiegen prickelnd auf wie das Flüstern einer Mädchenstimme. Der Champagner hatte ein fruchtiges, erfrischend zärtliches Bouquet, das in die Nase drang und dort verharrte. Es war einfach ein großartiger Champagner. Ihn anzusehen war besser, als den nackten Körper eines westlichen Mädchens

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