Die Schnapsstadt
anzustarren. Seinen Duft zu riechen war besser, als ein westliches Mädchen zu küssen. Ihn zu trinken …
Mit der einen Hand streichelte er liebevoll die edle grüne Flasche, mit der anderen spielte er mit einem langstieligen Glas. Seine langen, schmalen Finger schmiegten sich mit erotischer Zärtlichkeit an die Flasche und das Glas. Er hob das Glas vor die Augen und ließ helles Lampenlicht auf die golden schimmernde Flüssigkeit fallen. In seinem bewundernden Blick lauerte ein Hauch von Ungeduld. Er hielt das Glas an die Nase, roch daran, hielt den Atem an und öffnete voll Vorfreude den Mund. Dann nahm er einen kleinen, einen winzig kleinen Schluck, der kaum seine Zungenspitze und seine Lippen benetzte. Ekstatische Begeisterung stand in seinen Augen. Er nahm einen größeren Schluck und behielt die Flüssigkeit einen Moment lang mit angehaltenem Atem im Mund. Seine aufgeblähten Wangen ließen das Gesicht rundlicher erscheinen als gewohnt und das Kinn spitzer. Zu meinem Erstaunen sah ich, dass er keinen Bart hatte, nicht einmal ein einziges Schnurrbarthaar. Das waren keine Männerlippen, das war kein Männerkinn. Er spielte mit der Flüssigkeit in der Mundhöhle, was ihm großes Vergnügen zu bereiten schien. Rote Flecken breiteten sich über sein Gesicht aus wie schlecht aufgetragenes Rouge. Dass er den Champagner so lange im Mund hielt, gab mir zu denken. Draußen hörte ich das Rauschen des Regens. Im Blitzschein leuchtete das Zimmer grün auf. Im Schein des grünen Lichts schluckte mein Schwiegervater endlich den Champagner hinunter. Ich konnte sehen, wie er seine Kehle hinabfloss. Dann leckte er sich die Lippen, und seine Augen wurden feucht, als kämpfte er mit den Tränen. Ich hatte ihn oft im Hörsaal trinken sehen, und mir war nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Aber hier, bei sich zu Hause, wurde er sentimental, und das war ungewöhnlich. Der Anblick meines Schwiegervaters, der sein Glas streichelte und seinen perlenden Inhalt bewunderte, ließ mich an einen Schwulen denken. Ich hatte zwar noch nie einen Schwulen gesehen, aber ich stellte mir vor, dass das, was Schwule tun, wenn sie allein sind, so etwas Ähnliches sein muss wie die Art, in der mein Schwiegervater seine Flasche, sein Glas und seinen Champagner behandelte.
«Ekel erregend!»
Meine Schwiegermutter ließ die Essstäbchen fallen und stand unter wütendem Zetern auf. Sie ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Mir war das alles sehr peinlich. Damals habe ich nicht verstanden, was sie so Ekel erregend fand, aber heute weiß ich es.
Meinem Schwiegervater war der Spaß vergangen. Er zog sich an der Tischkante hoch und blieb lange und gedankenverloren unbeweglich stehen. Sein Blick ruhte auf der grün gestrichenen Schlafzimmertür. Das Einzige, was sich bewegte, war sein Gesichtsausdruck: von Enttäuschung zu Kummer, von Kummer zu Wut. Dann ein resigniertes Seufzen. Er verschloss die Flasche wieder und setzte sich auf das Sofa an der Wand. Er sah aus wie eine leere Hülse, nicht wie ein Mann. Plötzlich überfiel mich Mitleid mit dem alten Mann. Ich wollte ihn trösten, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann fiel mir der seltsame Bericht ein, der in meiner Aktentasche steckte, und das erinnerte mich an den Grund meines Besuchs. Ich zog die Papiere aus der Tasche und drückte sie ihm in die Hand. Ich habe mich nie daran gewöhnen können, ihn «Vater» zu nennen. Ich habe ihn immer mit «Herr Professor» angeredet. Das passte meiner Frau nicht, aber glücklicherweise störte es ihn nicht. Er sagte, es fiele nicht nur mir leichter, sondern erschiene auch ihm natürlich. Dass Schwiegersöhne ihre Schwiegerväter «Papa» nennen, sei heuchlerisch und ein wenig abstoßend. Ich schenkte ihm eine Tasse Tee ein. Das Wasser war lauwarm, und an der Oberfläche der Teeschale schwammen Teeblätter. Ich wusste, dass er sich nicht sehr für Tee interessierte und dass es letzten Endes gleichgültig war, ob das Wasser heiß war oder nicht. Er nahm die Schale und fragte gleichgültig:
«Habt ihr euch mal wieder gestritten? Nur weiter so! Streitet euch bloß weiter!»
Aus dieser knappen Bemerkung sprach die Hilflosigkeit, mit der er dem ehelichen Leben zweier Generationen seiner Familie gegenüberstand. Eine Aura der Trauer lag wie ein Schleier über dem kleinen Wohnzimmer. Ich gab ihm die Fotokopie und sagte:
«Herr Professor, das habe ich heute in der Bibliothek entdeckt. Es ist höchst interessant. Sehen Sie es sich bitte
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