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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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müssen, die ihre Gefühle vollkommen in der Gewalt haben. Bestenfalls gleicht das Glück von Paaren wie diesen der Abenddämmerung: langsam, ungewiss, säuerlich und klebrig, ein trübes Glück wie die Ablagerungen am Boden eines Schnapsfasses. Diejenigen, die sich drei Tage nach der Eheschließung scheiden lassen, sind eher rotmähnigen Hengsten verwandt. Ihre Gefühle lodern auf wie ein Buschfeuer und können die Welt rings um sie herum erhellen und in ihrer Hitze backen, bis sie Fett ausschwitzt. Die grausame Sonne des Mittags, ein tropischer Sturm, ein rasiermesserscharfes Schwert, starker Schnaps, ein Malpinsel mit allen Farben der Palette. Diese Ehen sind der geistige Wohlstand des Menschengeschlechts, wogegen die anderen sich in klebrigen Schlamm verwandeln, die menschliche Fähigkeit zur Aufklärung abstumpfen und den Prozess der historischen Entwicklung aufhalten. Deshalb war ich mir nicht mehr sicher, was meine Schwiegermutter in ihrem Schlafzimmer dachte. Vielleicht erinnerte sie sich gar nicht an vergangene glückliche Tage, sondern dachte eher an das unerfreuliche Verhalten meines Schwiegervaters, das sie über die Jahrzehnte hinweg angeekelt hatte. Bald sollten die Tatsachen meine Spekulationen bestätigen.
    Ich klopfte noch einmal an die Tür.
    «Was, meinst du, sollen wir tun?», fragte ich. «Sollen wir ihn zurückholen, oder sollen wir die Hochschulverwaltung informieren?»
    Es folgte eine Minute des Schweigens, der tödlichen Stille. Selbst ihre Atemzüge wurden unhörbar, was mich beunruhigte. Plötzlich stieß sie einen schrillen, durchdringenden Schrei aus, einen Schrei wie ein zugespitzter Bambusstab, einen Schrei, der weder mit ihrem Alter noch mit ihrer Persönlichkeit und ihrer üblichen Würde und Eleganz vereinbar schien. Die Unvereinbarkeit warf einen Widerspruch auf, der mich erschreckte. Ich fürchtete, sie könne so weit gehen, sich nackt an einem der Nägel in der Zimmerwand aufzuhängen wie ein gebratener Schwan. Welchen Nagel würde sie wohl wählen? Den, an dem das Verlobungsbild hing? Oder den, der den Kalender hielt? Oder den, der als Hutständer diente? Meine Befürchtungen waren unbegründet. Die beiden ersten waren zu schwach, der dritte zu schwach und zu kurz zugleich. Keiner davon konnte den knospengleichen Körper meiner Schwiegermutter mit seiner schneeweißen Haut tragen. Aber ihr erschreckender Schrei hatte mich bis ins Rückenmark erschauern lassen, und ich glaubte, ihre Stimme nur zum Schweigen bringen zu können, indem ich weiter an die Tür klopfte.
    Also klopfte ich weiter und versuchte, meiner Schwiegermutter alles zu erklären und sie zu trösten. Zu diesem Zeitpunkt war sie so verwirrt wie ein Kamelhaarknäuel, und ich musste sie mit geduldigem rhythmischem Klopfen und glatten Reden wie Kräuterlikör aus Wujia trösten, der eine beruhigende Wirkung hat und den Blutkreislauf stärkt. Was genau habe ich gesagt? Ich nehme an, so etwas wie: Meinen Schwiegervater hatte eines Nachts sein lebenslanger Wunsch, sich auf den Berg des Weißen Affen zu begeben, überwältigt. Er war bereit, für einen neuen Schnaps sein Leben zu opfern. Ich erklärte ihr, sein Verschwinden habe nichts mit ihr zu tun. Ich sagte, höchstwahrscheinlich werde er seinen Affenschnaps finden und damit einen großen Beitrag für die Menschheit leisten, ein bereits großartiges Destillationswesen weiter bereichern, ein neues Blatt in der Geschichte der Brennereikunde aufschlagen, China mit Ruhm bedecken und neue Einnahmequellen für Jiuguo auftun. Außerdem sagte ich: «Niemand kann ein Tigerjunges fangen, ohne sich in die Höhle des Tigers zu begeben.» Wie konnte er an Affenschnaps kommen, wenn er nicht in die Berge ging? Außerdem, so sagte ich, glaubte ich, dass mein Schwiegervater, ob er den Affenschnaps nun finden würde oder nicht, eines Tages wiederkommen würde, um seinen Lebensabend mit ihr zu verbringen.
    Wütend schrie meine Schwiegermutter:
    «Wen kümmert es schon, ob er wiederkommt? Ich will nicht, dass er wiederkommt! Ich ekle mich davor, dass er wiederkommt! Ich hoffe, er stirbt auf dem Berg des Weißen Affen! Ich hoffe, er wird zu einem haarigen Affen!»
    Bei ihren Worten standen mir die Haare zu Berge. Kalter Schweiß strömte aus allen Poren meines Körpers. Bis zu diesem Augenblick hatte ich allenfalls vage geahnt, dass ihre Ehe nicht harmonisch war. Ich wusste nur von kleineren Reibereien. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ihr Hass auf ihren Mann tiefer ging als der

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