Die Schnapsstadt
das Unwetter hörte mit einem Schlag auf. Ich stand wie versteinert da und lauschte dem Schlurfen seiner Pantoffeln auf dem rauen Beton der Treppenstufen. Das Schlurfen wurde immer leiser und erstarb schließlich in der Ferne. Sein Aufbruch hinterließ eine klaffende Leere im Wohnzimmer. Ich stand immer noch in meiner vollen Größe da und hatte irgendwie das Gefühl, ich sei eigentlich gar kein Mensch, sondern ein Gegenstand so unbedeutend wie ein Betonpfeiler. Es geschah alles so schnell, dass ich an eine Sinnestäuschung glauben wollte. Es war keine Sinnestäuschung. Auf dem Teetischchen, auf dem er sie abgelegt hatte, lagen immer noch seine Uhr und seine Brille. Die zwei Seiten Papier, die ich ihm gegeben hatte, lagen immer noch auf dem Sofa, wo er sie hingeworfen hatte, und die Flasche und das Glas, die er so selbstvergessen gestreichelt hatte, standen immer noch auf dem Esstisch. Der Glühfaden der Lampe surrte leise; und die altmodische Uhr an der Wand zählte die Stunden – ticktack, ticktack. Aus dem Schlafzimmer konnte ich die schweren Atemzüge meiner Schwiegermutter hören. Ich konnte mir vorstellen, dass sie auf dem Bett lag und die Arme um den Kopf geschlungen hatte wie eine Bäuerin, die heißen Brei schlürft.
Ich zögerte lang. Doch dann beschloss ich, ihr alles zu erzählen. Ich lauschte an der Tür und klopfte dann mehrmals kräftig an. Die Atemzüge hinter der Tür wurden von lautem Schluchzen und geräuschvollem Naseputzen unterbrochen. Ich dachte darüber nach, was sie wohl mit dem Rotz tat, der ihr aus der Nase floss. Eine extrem unwichtige Frage, aber sie tanzte unablässig in meinem Kopf umher wie eine lästige Fliege, die sich nicht verscheuchen lässt. Vielleicht wusste sie ja schon alles. Dennoch erzählte ich stotternd:
«… Er ist weg … zum Berg des Weißen Affen … er will den Affenschnaps suchen, sagt er …»
Sie putzte sich noch einmal die Nase. Wo tat sie den Rotz denn nun wirklich hin? Das Schluchzen wurde durch ein leises Knistern abgelöst. Ich sah sie vor mir, wie sie aus dem Bett stieg und auf die Tür oder auf die Wand starrte, wo das Verlobungsbild hing, das ich so sehr bewundert hatte. Es hatte einen geschnitzten Rahmen aus Schwarzholz und sah aus wie ein Ahnenbildnis, das eine Generation an die nächste weitergegeben hat. Zu dem Zeitpunkt, als man ihn auf die Platte gebannt hatte, war mein Schwiegervater noch ein gut aussehender Mann mit hochgezogenen Mundwinkeln gewesen, die ein humorvolles und freundliches Temperament verrieten. Er trug einen Mittelscheitel, der auf dem Bild wie eine weiße Narbe aussah, als habe ein scharfes Messer seinen Kopf in zwei Teile geschnitten. Sein Hals hielt den Raum über dem Kopf meiner Schwiegermutter besetzt, und sein spitzes Kinn stand keine drei Zentimeter über ihrem glatten, sauber gekämmten Haar und symbolisierte so die Autorität und die Liebe eines Ehemannes. Unter der unausweichlichen Unterdrückung durch die Autorität und die Liebe ihres Ehemannes war ihr Gesicht rund und mit buschigen Augenbrauen, einer dümmlich wirkenden kleinen Stupsnase und einem üppigen und zugleich entschlossenen Mund versehen. Damals hat meine Schwiegermutter ein wenig wie ein hübscher junger Mann in Frauenkleidern ausgesehen. In ihrem Gesicht konnte man noch etwas von den rauen Qualitäten ihrer Nester sammelnden Vorfahren sehen – vor keiner Mühsal zurückscheuend, von keinem Felshang abgeschreckt –, die in einem so auffälligen Widerspruch zu ihrem heutigen trägen, sinnlichen, verwöhnten Selbst standen, das eher der kaiserlichen Konkubine Yang Guifei verwandt schien. Wie war sie zu der geworden, die sie war? Und wie hatten die beiden, sie und ihr Mann, so eine hässliche Tochter gezeugt, eine Schande für das ganze chinesische Volk? Die Mutter war aus Elfenbein geschnitzt, die Tochter aus Schlamm geknetet. Ich war sicher, eines Tages würde ich die Antwort auf diese Frage finden. Das Glas im Bilderrahmen war seit so langer Zeit nicht geputzt worden, dass Generationen von verstohlenen Spinnen ihre zarten Netze darüber gesponnen hatten. In den Ecken und Kanten hatte sich feiner Staub gesammelt. An was dachte meine Schwiegermutter, während sie dies Relikt einer anderen Zeit anstarrte? Erinnerte es sie an vergangene glückliche Tage? Aber ich wusste gar nicht, ob es für die beiden jemals glückliche Tage gegeben hatte. Ich habe eine Theorie entwickelt, der zufolge Paare, die jahrzehntelang verheiratet bleiben, ruhige Menschen sein
Weitere Kostenlose Bücher