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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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verschmierten den polierten Holzboden. Dann begann sein Bein zu zucken wie der Hals eines Huhns, dem man den Kopf abschlägt. Von grauenhaften Schmerzen geplagt, wand sich sein Körper in glatten, sauberen Kreisen. Nach etwa einem Dutzend Umdrehungen hörten seine Beine auf, gegen den Boden zu schlagen, und dann geschah Folgendes: Das spastische Zucken ließ nach, aber dafür begann der Zwerg am ganzen Körper zu zittern. Das Zittern lief zunächst gleichmäßig über seinen Körper, dann verebbte es in lokalen Zuckungen, bei denen einzelne Muskelgruppen sich verhielten wie Sportfans, die im Stadion La Ola vorführen. Von der linken Fußspitze aus lief die Welle den linken Unterschenkel hoch, dann den linken Oberschenkel, die linke Hüfte und schließlich die linke Schulter. Von da aus kreuzte sie zur rechten Schulter hinüber, bewegte sich zur rechten Hüfte hinunter, dann zum rechten Oberschenkel, zum rechten Unterschenkel und schließlich in die rechte Fußspitze. Dort angekommen, wechselte sie die Richtung und machte sich auf den Rückweg zu ihrem Ausgangspunkt. Es dauerte lange, bis das Zittern gänzlich erstarb. Ding Gou'er hörte die Luft mit lautem Zischen aus der Zwergenleiche strömen. Dann blieb Yu Yichi reglos auf dem Boden liegen. Er war mausetot. Er sah aus wie ein alter Alligator in einem Sumpf. Während er den Todeszuckungen des Zwergs zusah, ließ Ding Gou'er die Lastwagenfahrerin keinen Moment aus dem Auge. Als der Zwerg von ihren glänzenden nackten Knien glitt, sank sie rückwärts auf die Federkernmatratze, auf der ein schneeweißes Laken und ein Haufen Kissen und Polster lagen. Es waren Daunenkissen, bemerkte Ding Gou'er, während er den zarten, weichen Federn zusah, die aus dem Saum eines großen Kissens mit rosa Blütenmuster quollen und in die Luft wirbelten, als ihr Kopf darauf fiel. Sie lag auf dem Rücken auf dem Bett, und ihre weit gespreizten Beine hingen über die Bettkante, eine Stellung, die ihn an irgendetwas erinnerte. Er entsann sich der wilden Leidenschaft der Lastwagenfahrerin und verspürte die stechenden Qualen der Eifersucht. Er biss sich auf die Lippe, aber die finsteren Gedanken, die ihn verzehrten, ließen sich nicht so einfach stillen. Die Schmerzen eines tödlich verwundeten Tiers, das dem Jäger zum Opfer gefallen ist, zerrissen sein Herz. Tiefe Seufzer drängten sich durch seine aufeinander gebissenen Zähne. Er versetzte dem leblosen Leichnam des Zwergs einen zornigen Tritt und warf sich – die rauchende Pistole in der Hand – neben die Lastwagenfahrerin aufs Bett. Ihr ausgestreckter Körper ließ die alten Gefühle von Liebe und Hass wieder wach werden. Er hoffte, dass sie tot sei, und betete doch, sie möge nur vor Angst in Ohnmacht gefallen sein. Er hob ihren Kopf und sah einen schwach funkelnden Lichtstrahl, der sich in den perlweißen Zähnen zwischen den weichen halb geöffneten Lippen brach. Die Bilder eines späten Herbsttags vor der Zeche Luoshan rasten vor seinen Augen vorüber. Damals hatten sich diese Lippen, die sich auf die seinen senkten, kalt, nachgiebig, tot und seltsam angefühlt, wie ein gebrauchter Wattebausch … Mitten zwischen ihren Augen entdeckte er ein dunkles Loch so groß wie eine Sojabohne, das von Metallsplittern umringt war. Er wusste, dass es die Spuren einer Kugel waren. Sein Körper wandte sich ab, und wieder spürte er, wie eine Ekel erregend süße Flüssigkeit in seiner Kehle hochstieg. Er warf sich zu ihren Füßen nieder, und ein Strom von frischem Blut ergoss sich aus seinem Mund und färbte ihren Bauch scharlachrot.
    Ich habe sie getötet, dachte er entsetzt.
    Er steckte den Zeigefinger in das Loch. Es fühlte sich warm an, und die eingerissene Haut rund um die Einschussöffnung fühlte sich unter seiner Fingerspitze rau an. Ein bekanntes Gefühl! Er strengte sein Gedächtnis an und erinnerte sich schließlich an das Gefühl, das er als Kind gekannt hatte, wenn er mit der Zungenspitze an einem neuen Zahn spielte. Dann erinnerte er sich daran, wie er seinem Sohn dies Spiel verboten hatte. Der kleine Junge war auf ihn zugegangen und hatte dabei einen lockeren Zahn in seinem Mund mit der Zungenspitze hin und her bewegt. Die Augen in seinem Mondgesicht waren groß und rund. Egal wie sauber und neu seine Kleider waren, er sah immer ein bisschen dreckig aus. Er hatte ein Buch auf den Rücken geschnallt, trug ein rotes Tuch unordentlich um den Hals gebunden und hielt eine Weidengerte in der Hand. Ding Gou'er war seinem Sohn mit der

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