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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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aus der Satteltasche, schälte sie und gab seinem kurzen Kameraden eine davon. Versuch mal, sagte er, echte Shandong-Zwiebeln! Ich habe ein paar Pfefferschoten dabei, sagte der kurze und zog die rot leuchtenden Schoten aus der Tasche. Echter Chili aus Hunan, sagte er stolz. Magst du? Wenn du keine Chilischoten isst, bist du kein Revolutionär, und wenn du kein Revolutionär bist, musst du ein Konterrevolutionär sein. Die wahren Kämpfer der Revolution essen Lauchzwiebeln, sagte der Lange. Aufgebracht gingen sie aufeinander los. Der eine schwenkte Lauchzwiebeln in der Luft, der andere eine Hand voll Chilischoten. Der Lange schlug seinem Kameraden die Lauchzwiebeln auf den Kopf der Kurze stopfte seinem Kameraden die Chilischoten in den Mund. Der Pfannkuchenverkäufer warf sich zwischen die beiden und versuchte, sie zu beruhigen. Kein Streit, Genossen!, rief er. Für mich seid ihr beide echte Revolutionäre. Die Soldaten trennten sich unter zornigem Schnaufen. Der Pfannkuchenverkäufer brach in Gelächter aus, und auch Ding Gou'er konnte sich bei dem Anblick das Lachen nicht verkneifen. Die Mutter des Verkäufers kam auf ihn zu. Worüber lachst du? Du siehst aus wie ein Störenfried. Bin ich aber nicht, antwortete Ding Gou'er rasch, wirklich nicht. Wer außer einem Störenfried würde so lachen wie du? Wie lache ich denn?, fragte Ding Gou'er. Mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk zog die alte Frau einen kleinen runden Spiegel hervor, als habe sie ihn aus der Luft gegriffen, und drückte ihn Ding Gou'er in die Hand. Sieh doch selbst!, sagte sie. Der Anblick schockierte ihn. Genau in der Mitte zwischen seinen Augen sah er eine blutige Schusswunde, und in den Windungen seines Gehirns bewegte sich eine glänzende gelbe Kugel. Vor Schreck hielt er den Atem an und ließ den Spiegel wie ein Stück glühend heißen Stahl fallen. Der Spiegel fiel zu Boden und tanzte dort wie ein Kreisel. Als leuchtender Punkt fiel der kreisende Lichtstrahl aus dem Spiegel auf das verblasste Rot einer Hauswand. Ding Gou'er studierte die Schrift an der Wand, die sich als eine lächerliche Parole erwies: VERNICHTET DIE BEIDEN ÜBEL: ALKOHOL UND SEX! Plötzlich wurde ihm die Bedeutung der Parole klar. Er ging auf die Wand zu und berührte die Schriftzeichen mit der Hand. Sie verbrannten seine Fingerspitzen wie glühender Stahl. Als er sich umdrehte, waren die beiden Soldaten verschwunden und mit ihnen der Pfannkuchenverkäufer und seine Mutter. Nur das Motorrad stand einsam und verlassen auf der Straße. Er trat näher heran und fand in der Satteltasche eine Flasche Schnaps. Er hob sie vor die Augen, schüttelte sie und sah den Bläschen zu, die wie kleine Perlen in ihr aufstiegen. Die Flüssigkeit in der Flasche war grün wie Mungobohnen. Der Duft edelster Beerenbrände wehte um den Korken, als er ihn zog. Als er den kühlen Flaschenhals zwischen die brennenden Lippen schob, überkam ihn wohlige Zufriedenheit. Die grüne Flüssigkeit glitt wie Schmieröl durch seine Kehle, und sein Magen und seine Eingeweide jubelten freudig wie Schulkinder mit einem Blumenstrauß in der Hand. Seine Lebensgeister erwachten aufs Neue wie Samenkörner, die nach langer Dürre kühler Regen tränkt, und bevor er sich's versah, hatte er die Flasche bis zum letzten Tropfen ausgetrunken. Er wünschte, es wäre mehr gewesen, und warf einen letzten bedauernden Blick auf die Flasche, bevor er sie wegwarf, das Motorrad bestieg, mit festem Griff den Lenker umfasste und auf das Startpedal trat. Er konnte spüren, wie das Motorrad wie ein edles Ross zum Leben erwachte: laut wiehernd, auf den Boden stampfend, mit hochgeworfenem Schweif – kraftvoll und startbereit. Sobald er die Bremse löste, rollte das Motorrad holprig auf die Fahrbahn, um dann mit triumphierendem Röhren wie eine Pistolenkugel davonzuschießen. Es kam ihm vor, als wisse der Motor zwischen seinen Knien genau, was er wollte. Er brauchte weder Gas zu geben noch zu lenken. Er brauchte nichts zu tun, als sich festzuhalten und aufzupassen, dass er nicht abgeworfen wurde. Das satte Brummen des Motors wurde zum Wiehern eines feurigen Hengstes. Er fühlte den warmen Bauch seines Reittiers zwischen den Schenkeln und roch den berauschenden Duft von Pferdeschweiß. Sie überholten ein glänzendes Fahrzeug nach dem anderen und sahen die Entgegenkommenden, die sie mit erschreckt aufgerissenen Augen anstarrten, bevor sie den Weg freigaben. Ein Eisbrecher, der sich seinen Weg durch das Packeis bahnt, oder ein

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