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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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den Fluchtweg zu versperren. Es war ihm klar, dass das unmanierlich wäre. Die Schirmmütze kam ihm in den Sinn, die er getragen hatte, als er versuchte, die Lastwagenfahrerin anzumachen. Die Schirmmütze erinnerte ihn an seine Aktentasche und die schwarze Pistole, die in ihr ruhte. Der Gedanke an seine Pistole aktivierte die Schweißdrüsen in seinen Achselhöhlen. Eines der rot uniformierten Mädchen fing seinen suchenden Blick auf und brachte ihm die Aktentasche. Als er sie kontrolliert und sich vergewissert hatte, dass sein treuer Gefährte und Kumpel noch da war, ließen die Schweißausbrüche nach. Aber seine Schirmmütze war nicht da. Er musste an den Wachhund, den Pförtner, den jungen Mann mit der Stoppelfrisur von der Sicherheitsabteilung, den Holzstapel und den Sonnenblumenwald denken. All diese Szenen und die Menschen, die sie bevölkerten, schienen ihm so fern und fremd, dass er einen Moment darüber nachdenken musste, ob er sie wirklich gesehen hatte oder ob sie in einen Traum gehörten. Sorgfältig stellte er die Aktentasche zwischen seine Knie. Der störrische, unruhige kleine Dämon in ihm ließ einen Blitzstrahl vor seinen Augen vorüberziehen. Äußerste Klarheit und verschwimmende Konturen wechselten einander ab. Er sah Ölflecken auf seinen Knien, die einmal einer kolorierten Landkarte Chinas glichen und ein andermal einer vergilbten Karte von Java. Manchmal konnte er die Konturen nicht richtig ausmachen, aber er gab sich Mühe, sie festzuhalten, und hoffte, die Karte von China würde ihre Farben behalten und die Karte von Java dunkel und vergilbt bleiben.
    Kurz bevor Jin Gangzuan, Stellvertretender Abteilungsleiter für Öffentlichkeitsarbeit und ständiges Mitglied des örtlichen Parteikomitees der Gemeinde Jiuguo, den Saal betrat, fuhr ein stechender Schmerz durch Ding Gou'ers Eingeweide. Ein Nest von Giftschlangen wand und krümmte sich züngelnd in seinen Därmen. Stechend, o so stechend, klebrig, o so klebrig, verworren, verknotet, illegal, hinterlistig zogen und zerrten und zischten sie, ein ganzes Nest von Giftschlangen, und er wusste, dass er Verdauungsprobleme hatte. Das Gefühl verlagerte sich nach weiter oben: eine brennende Flamme, ein harter Bambusbesen, der kratzend über seine Magenwände fuhr, ein bemalter Nachttopf voller Scheiße. O du meine Mutter, stöhnte der Ermittler innerlich, das ist mehr, als ich ertragen kann! Schlimme Zeiten sind über mich gekommen. Ich bin in die finstere Falle der Zeche von Luoshan gefallen, die Falle, die aus Essen und Trinken und hübschen Gesichtern besteht!
    Ding Gou'er stand auf, bückte sich und entdeckte, dass er seine Beine nicht mehr spüren konnte. Er wusste nicht mehr, was ihn an seinen Platz zurückgeführt hatte. Sein Gehirn?
    Seine Beine? Die hellwach funkelnden Augen der Mädchen in den roten Uniformen? Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor, die seine Schultern hielten?
    Sie drückten ihn mit dem Gesäß wieder auf seinen Stuhl. In den Tiefen seines Körpers wurde ein dumpf grollendes Geräusch hörbar. Die rot uniformierten Mädchen hielten die Hand vor den Mund und kicherten. Er schaffte es nicht mehr, sich darüber zu empören. Sein Körper und sein Bewusstsein hatten die Scheidung eingereicht. Vielleicht war es ja auch nur sein verräterisches Bewusstsein, das sich auf die Flucht begab. In diesem peinlichen und schmerzensreichen Augenblick öffnete sich die mit rotem Leder gepolsterte schalldichte Tür zum Speisesaal, und mit diamanthell funkelndem Körper, von goldenem Frühlingsduft umgeben, betrat wie ein Sonnenstrahl, wie die Verkörperung aller Träume, wie das Versprechen hoffnungsvoller Träume, der Stellvertretende Abteilungsleiter Jin Gangzuan den Raum.
    Jin Gangzuan war ein freundlicher Mann mittleren Alters mit dunklem Teint, einer hohen Nase und einem länglichen Gesicht. Er trug eine teefarbene Spiegelbrille mit silbernem Rand. Im Lampenschein glichen seine Augen bodenlos tiefen schwarzen Brunnenlöchern. Er war von mittlerer Größe und trug einen frisch gebügelten dunkelblauen Anzug, ein schneeweißes Abendhemd und eine blauweiß gestreifte Krawatte. Seine schwarzen Lackschuhe waren spiegelblank poliert. Das volle Haar war locker gekämmt. In seinem Mund leuchtete ein Goldzahn. (Vielleicht war es auch nur Messing.)
    Ding Gou'er bemühte sich, so schnell wie möglich einen klaren Kopf zu bekommen. Er ahnte, dass ihm hier und jetzt die schicksalhafte Begegnung mit seinem wahren Gegner bevorstand.
    Der

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