Die Schnapsstadt
Sie.»
«Das ist so üblich», sagte jemand anders. «Sie haben sie schon probiert.»
Dann sagten sie: «Es macht nichts, wenn Sie den Schnaps austrinken, aber es macht uns etwas aus, wenn Sie ihn verschütten. Verschwendung ist die schlimmste Sünde.»
Ding Gou'er blieb nichts übrig, als die drei Schälchen auszutrinken.
«Danke», sagte Jin Gangzuan, «vielen Dank. Jetzt bin ich dran.»
Erhob ein Schnapsschälchen hoch und trank es geräuschlos und ohne einen Tropfen zu verschütten aus. Sein einfacher und doch kultivierter Stil bewies, dass er kein gewöhnlicher Trinker war. Mit jedem folgenden Schälchen steigerte sich sein Tempo. Aber weder Präzision noch Effektivität, Rhythmus oder Eleganz seines Trinkstils litten unter der stetigen Beschleunigung. Mit der weit ausholenden Bewegung des Bogens, der über die Saiten der Geige streicht, griff er nach der letzten der dreißig Trinkschalen. Die weiche, zarte Melodie der Violine wehte durch den Raum und strömte durch Ding Gou'ers Adern. Sein Misstrauen erlahmte, und Regungen der Sympathie für Jin Gangzuan stiegen langsam an die Oberfläche wie das knospende Gras am Strom, wenn es im Frühling taut. Er sah zu, wie Jin Gangzuan das letzte Schälchen an die Lippen hob, und sah einen leicht melancholischen Zug in seine Augen treten. Der Stellvertretende Abteilungsleiter verwandelte sich in einen guten und großzügigen Menschen, den eine Aura von lyrisch anmutender Sentimentalität umgab. Die Geigentöne waren lang und getragen. Eine herbstliche Brise spielte im goldgelben Laub. Vor einem Grabstein öffnete sich eine kleine weiße Blüte. Mit feuchten Augen sah Ding Gou'er auf das Schälchen, als sei es eine klare Quelle, die an einem kleinen Fels entsprang und sich in einen tiefen grünen See ergoss. Tiefe Liebe zu diesem Mann füllte sein Herz.
Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor spendeten geräuschvoll Beifall. Nur Ding Gou'er blieb, in seiner poetischen Stimmung gefangen, stumm. Schweigen legte sich über die Szene. Die vier Kellnerinnen in ihren roten Uniformen erstarrten mitten in der Bewegung und blieben lauschend in Gedanken versunken stehen wie vier liebliche Schilfstauden am Ufer. Nur das Rauschen der Klimaanlage in der Ecke durchbrach die Stille. Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor forderten Jin Gangzuan auf, noch einmal dreißig Schälchen mit ihnen zu trinken, der aber lehnte ab.
«Es langt», sagte er. «Alles andere wäre parteischädigender Luxus. Aber da ich den Genossen Ding heute zum ersten Mal getroffen habe, sollte ich noch dreimal drei Schälchen mit ihm trinken.»
Ding Gou'er starrte verblüfft den Mann an, der dreißig Schalen Schnaps trinken konnte, ohne dass man es ihm anmerkte. Von der Eleganz des Abteilungsleiters, seiner honigsüßen Stimme und dem Glanz des Gold- oder Messingzahns in seinem Mund überwältigt, verlor er die einfache mathematische Tatsache aus den Augen, dass drei mal drei neun ist.
Neun Schalen wurden vor Ding Gou'er aufgereiht und noch einmal neun vor Jin Gangzuan. Ding Gou'er konnte dem Mann nicht widerstehen. Sein Bewusstsein und sein Körper bewegten sich in entgegengesetzte Richtungen. Sein Bewusstsein schrie: Du darfst nicht trinken! Seine Hand griff nach dem Schälchen und schüttete den Inhalt in den Mund.
Neun kräftige Schnäpse machten sich auf den Weg in seinen Magen. Seine Tränendrüsen schwollen an. Er wusste nicht, warum ihm die Tränen über das Gesicht strömten. Warum sollte ich bei einem Festmahl weinen? Niemand hat mich geschlagen, niemand hat mich beschimpft, warum weine ich? Ich weine nicht. Ein paar Tränen bedeuten noch lange nicht, dass ich weine. Immer mehr Tränen strömten ihm über ein Gesicht, das bald einem Haufen regennasser Lotosblätter glich.
«Tragt den Reis auf», hörte er Jin Gangzuan sagen. «Genosse Ding sollte etwas essen, bevor er sich ausruhen geht.»
«Es kommt noch ein wichtiger Gang.»
«Ach so, natürlich», sagte Jin Gangzuan nachdenklich. «Bringt ihn herein.»
Eine rot uniformierte Kellnerin entfernte den Kaktus, der in der Tischmitte gestanden hatte. Dann betraten zwei rot uniformierte Kellnerinnen den Saal und trugen ein großes rundes versilbertes Tablett hinein, auf dem ein goldbrauner, unglaublich appetitlich duftender kleiner Junge saß.
II
Verehrter Meister Mo Yan!
Ich habe Ihren Brief erhalten. Vielen Dank, dass Sie meine Erzählung gelesen und sie an die Volksliteratur weitergeleitet haben. Mir liegt jede Form
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