Die Schnapsstadt
alter Knabe. Wir alle, wie wir hier sitzen, haben die geballte Faust erhoben und den Eid auf die Fahne der Partei abgelegt. Das Streben nach dem Glück des Volkes mag Ihre Aufgabe sein. Aber es ist auch die meine. Reden Sie sich nicht ein, Sie seien der einzige anständige Mensch auf Erden. Am Gastmahl von Jiuguo mit seinem Festgericht haben schon verdiente Führungskader aus Partei und Regierung, hochverehrte Freunde unseres Landes aus allen fünf Kontinenten und berühmte Künstler und Prominente aus China und dem Rest der Welt teilgenommen. Sie alle haben uns mit Lob überhäuft. Sie, Sonderermittler Ding, sind der Erste, der sich für ein festliches Mahl bedankt, indem er die Pistole auf uns richtet!»
Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor schlossen sich dem Abteilungsleiter an:
«Genosse Ding Gou'er, was für ein böses Trugbild verschleiert Ihnen den Blick? Sind Sie sich klar darüber, dass sich Ihre Pistole nicht auf den Klassenfeind, sondern auf Ihre eigenen Brüder und Genossen richtet?»
Ding Gou'ers Handgelenk begann zu zittern, der Pistolenlauf senkte sich. Seine Augen wurden trübe, und der liebliche Schmetterling, der in seinen Kokon zurückgekehrt war, begann sich wieder zu winden. Die Angst lastete auf seinen Schultern wie ein schwerer Felsen. Er konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Gleich würden seine Knochen zu Staub werden. Er blickte geradewegs in eine bodenlose übel riechende Jauchegrube, die ihn in ihren alles auslöschenden Schlamm reißen und für immer dort festhalten würde. Aber dieser schlaue kleine Typ, der duftende kleine Junge, der Sohn seiner zärtlichen Mutter, der von einer magischen Lotosblüte aus verzaubertem Nebel umwoben vor mir sitzt, hat seine Hand gehoben. Er hat wirklich die Hand gehoben, und jetzt winkt er mir zu. Seine Finger sind kurz, rundlich, dick, fleischig und unglaublich lieblich. Die Fältchen in seinen Fingern, ein dreifacher kreisförmiger Saum, die vier kleinen Grübchen auf dem Handrücken. Der süße Klang seines Gelächters tanzt im aromatischen Duft, der den Raum erfüllt. Die Lotosblüte erhebt sich in die Luft und trägt das Kind mit sich. Sein runder kleiner Nabel ist kindlich und unschuldig wie die Grübchen in seinen Wangen. Ihr verführerischen Verbrecher! Glaubt nicht, dass ihr euch herausreden könnt! Der gebratene und gedünstete kleine Junge hat mich angelächelt. Ihr sagt, er sei in Wirklichkeit kein Kind, sondern ein berühmtes Gericht der gehobenen Küche. Wer hat jemals einen solchen Unsinn gehört? Zur Zeit der Frühlings- und Herbstannalen hat der Hofkoch Yi Ya den eigenen Sohn für seinen Herrn, den Herzog Huan von Qi, gekocht. Der Geschmack war erlesen wie zartes Milchlamm, nur noch besser. Was habt ihr vor, ihr wild gewordenen Yi Yas? Nehmt die Hände hoch und seht, was euch erwartet! Yi Ya war immer noch besser als ihr. Wenigstens hat er seinen eigenen Sohn gekocht. Ihr kocht die Söhne fremder Mütter. Yi Ya gehörte der Klasse der feudalistischen Grundbesitzer an, und die Hingabe an den Herrscher entsprang der Tugend der Loyalität. Ihr seid führende Parteikader und tötet die Söhne des einfachen Volks, um euch den Bauch voll zu schlagen. Der Himmel wird dies sündige Treiben nicht dulden! Ich höre das Mitleid erregende Klagen kleiner Jungen im Dämpftopf. Ich höre sie in knisternden Woks und auf hölzernen Hackbrettern klagen. Zwischen Öl, Salz, Sojasauce, Essig, Zucker, Anis, Pfefferkörnern, Zimt, Ingwer und Reiswein höre ich sie weinen. Sie weinen und klagen in euren Eingeweiden, in den Toiletten, in den Abwasserkanälen. Sie klagen in den Flüssen und in den Klärwerken. Sie klagen im Bauch der Fische und in der Ackerkrume, im Bauch von Walen, Haifischen, Aalen und Schleierschwanzfischen, in Weizenähren, in Maiskolben, in zarten Erbsenschoten, in den Knollen der Süßkartoffeln, in den Hirsehalmen. Worüber klagen sie? Sie weinen und weinen, sie heulen und klagen und brechen einem jeden das Herz, der ihre Klage aus Äpfeln, aus Birnen, aus Trauben, aus Pfirsichen, aus Aprikosen und Walnüssen hervorbrechen hört. Die Gemüsestände sind erfüllt vom Weinen der Kinder. Die Schlachthöfe sind erfüllt vom Weinen der Kinder. Über den Esstischen von Jiuguo hört man die grauenhafte Klage all der ermordeten kleinen Jungen. Wen sollte ich erschießen, wenn nicht euch drei?
Im Nebel, der den gedünsteten Knaben umgab, schwebten fettglänzende Gesichter. Sie tauchten auf wie glitzernde Glasscherben und verschwanden
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