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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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kleinen Händen suchten nach Gras, Schlamm, Sand, um dem Falken den Schnabel zu stopfen. Wie trommelnde Regentropfen fielen sie über seine Augen her und drückten ihm die Nasenflügel zu. Die Begeisterung der Kinder steigerte sich zu wildem Enthusiasmus, als sie das Spiel des Lebens spielten und den Kopf des Falken mit Schlamm bedeckten. So sind Kinder nun einmal. Sie scharen sich um einen toten Frosch oder eine Schlange, die die Straße überqueren will, oder eine verwundete Katze. Erst schlagen sie das arme Tier halb tot, dann scharen sie sich um es und genießen das Schauspiel.
    «Ist er tot?»
    Dem Hintern des Falken entwich ein gewaltiger Luftstoß.
    «Nein, noch nicht. Eben hat er noch gefurzt. Macht weiter!»
    Der nächste Schlammschauer begrub den Falken beinah. Ja, er war so gut wie unter dem Schlamm begraben.
     
    Als die Leiterin der Abteilung für Sondereinkäufe der Akademie für Kochkunst die unheimlichen Hilfeschreie auf dem Hof vor dem Raum der Fleischkinder hörte, zogen sich ihr Hals und ihre Blase krampfartig zusammen, und der Dämon des Untergangs bohrte sich wie ein Insekt in ihr Bewusstsein.
    Sie stand auf und ging zum Telefon, aber als ihre rechte Hand den Hörer berührte, schoss etwas, das sich anfühlte wie ein elektrischer Schlag, von der Fingerspitze über ihren Arm hoch und lähmte die eine Seite ihres Körpers. Halbseitig gelähmt schleppte sie sich zurück an den Schreibtisch. Es war ihr, als habe man sie in zwei Teile gespalten. Ihre eine Seite war kalt, die andere fiebrig heiß. Hastig öffnete sie eine Schublade und zog einen Spiegel heraus, um sich anzusehen. Ihre eine Gesichtshälfte sah gesund und sonnengebräunt aus, die andere gespenstisch weiß. Vor Aufregung zitternd, schaffte sie irgendwie den Weg zurück zum Telefon. Aber als sie danach greifen wollte, zuckte ihre Hand zurück wie vom Blitz getroffen. Sie stand kurz davor, auf dem Boden zusammenzusinken, als ein göttlicher Funke in ihrem Gehirn aufflammte und Licht auf den Weg warf, der vor ihr lag. Am Straßenrand stand ein Baum, in den der Blitz eingeschlagen hatte. Die eine Seite prangte in üppigem Grün und war von Laub und saftigen Früchten bedeckt, die andere Hälfte stand kahl mit bronzefarbenen Ästen und einem eisernen Stamm da und erstrahlte magisch in einem Meer von Sonnenschein. Sie wusste es sofort: Dieser Baum bin ich. Der Gedanke füllte ihr Herz mit unaussprechlicher Wärme. Die Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Als sei sie hypnotisiert oder verliebt, blickte sie unverwandt auf die Hälfte des großen Baums, die im Blitzschlag versteinert war, und wandte sich angeekelt von der grünen Hälfte ab. Sie versuchte, einen Blitz heraufzubeschwören, der die grüne Hälfte des Baums in bronzene Äste und einen eisernen Stamm verwandeln würde, um so den Baum zu einem glorreichen Ganzen zusammenzufügen. Dann griff sie mit der linken Hand nach dem Telefon, und ihr Körper fühlte sich an, als müsse sie verbrennen. Sie fühlte sich zehn Jahre jünger, als sie war. Sie rannte hinaus in den Hof und dann auf die Wiese vor dem Aufenthaltsraum der Fleischkinder. Als sie den unter Schlamm begrabenen Falken sah, brach sie in Gelächter aus. Sie klatschte in die Hände und rief:
    «Gut gemacht, Kinder! Ihr habt ihn getötet. Gut gemacht! Aber jetzt müsst ihr fliehen, so weit weg von dieser Höhle mordlüsterner Ungeheuer, wie ihr nur könnt.»
    Sie führte die Kinder durch eine Reihe von Eisentoren und über die gewundenen Pfade der Akademie für Kochkunst. Aber der Rettungsversuch war zum Scheitern verurteilt. Außer dem kleinen Dämon, dem die Flucht gelang, wurde jedes einzelne Kind eingefangen und zurückgeschleppt, und die Frau wurde entlassen. Warum wohl, lieber Leser, glaubst du, habe ich so viel Tusche an das Schicksal dieser Frau verschwendet? Weil sie meine Schwiegermutter ist, das heißt: die Ehefrau von Professor Yuan Shuangyu von der Brauereihochschule. Allgemein heißt es, sie sei verrückt geworden, und das glaube ich auch. Heute verbringt sie ihre Zeit damit, stapelweise Strafanzeigen zu schreiben und an den Vorsitzenden des Zentralkomitees, den Parteisekretär der Provinz, ja sogar an eine Märchenfigur, den legendären Richter Bao in der Präfektur Kaifeng, zu schicken. Also wirklich! Ist so jemand nun verrückt oder nicht? Demnächst wird sie sich nicht einmal mehr die Briefmarken leisten können.
     
    Wenn zwei Blumen zur gleichen Zeit blühen, sollte man sich immer um eine nach der anderen

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