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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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kümmern. Eine Gruppe weiß uniformierter Männer schleppte die fliehenden Kinder zurück in den Fleischkinderraum. Sie schafften es nur mit Mühe, denn die Kinder hatten ihre Feuertaufe im tödlichen Kampf gegen den toten Falken erhalten und waren zu wilden, schlauen Wesen geworden. Sie waren in den Wald gelaufen oder hatten sich in Mauernischen versteckt, sie waren auf Bäume geklettert oder in Latrinen gesprungen. Wo es ein Versteck gab, hatten sie es gefunden. Es ist einfach so, dass die Kinder, nachdem meine Schwiegermutter die eiserne Tür zum Fleischkinderraum geöffnet hatte, vollkommen wild geworden waren. Sie glaubte, sie führe eine Gruppe von Kindern aus einer Höhle von Ungeheuern heraus, aber das war reine Phantasie, denn das Einzige, was ihr folgte, war ihr eigener Schatten. Als sie am Hinterausgang der Akademie stand und die Kinder laut aufforderte, zu fliehen, hörte niemand ihre Rufe, außer ein paar alten Männern und Frauen, die sich am Kanal zwischen der Akademie und dem Fluss versteckt hielten, um dort auf delikate Küchenabfälle zu warten. Meine Schwiegermutter konnte sie in ihren Verstecken unter dem dichten Laub nicht sehen. Aber warum ist meine Schwiegermutter, die einen verantwortungsvollen Posten innehatte, verrückt geworden? War es die Folge eines elektrischen Schlags oder nicht? Das gehört in eine andere Geschichte.
    Als die Flucht der Kinder entdeckt worden war, berief die Sicherheitsabteilung der Akademie für Kochkunst eine dringliche Sitzung ein, um über Notmaßnahmen bis hin zur völligen Abriegelung der Akademie zu beraten. Nachdem man die Tore geschlossen hatte, begannen Elitetruppen damit, das Anwesen zu durchsuchen. Während der Suche wurden zehn Mitglieder der Sicherheitsabteilung von Fleischkindern gebissen, und eines davon, eine Frau, wurde mit einem ausgestreckten Zeigefinger auf einem Auge geblendet. Die Akademieleitung überschüttete die Verwundeten mit Mitgefühl und Trost und verteilte sogar je nach Schwere der Verwundung großzügige Sonderzahlungen. Die wieder eingefangenen Fleischkinder wurden unter strikter Aufsicht in einem sicheren Raum eingesperrt. Die Zählung ergab, dass ein Kind fehlte. Nach Aussage der weiß uniformierten Angestellten, die nach einer medizinischen Behandlung das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war das entflohene Fleischkind niemand anders als der Junge, der sie angegriffen hatte. Er musste es auch gewesen sein, der den Falken getötet hatte. Sie erinnerte sich vage, dass er rote Kleider trug und dunkle Schlangenaugen hatte.
    Ein paar Tage später entdeckte einer der Hausmeister bei der Reinigung des Kanals ein Bündel unbeschreiblich schmutziger roter Kinderkleider. Aber von dem kleinen Dämon, dem Mörder, dem Anführer der Fleischkinder, fand sich keine Spur.
    Lieber Leser, willst du wissen, was aus dem kleinen Dämon wurde?

IV
     
    Herr Doktorand im Fach Alkoholkunde, Yidou, mein Bruder!
     
    Danke für deinen Brief. Ich habe deine Erzählung Wunderkind gelesen. Der kleine Dämon in seinem roten Tuch hat meinen Herzschlag erhöht und mir eine Gänsehaut geschenkt. Ich konnte tagelang nicht schlafen. Die Sprache dieser Erzählung, lieber Bruder, ist höchst raffiniert, und die Handlung scheint einem unendlichen Vorrat an Erfindungsgabe zu entspringen. Die Erzählung ist meinen eigenen Versuchen weit überlegen. Wenn du darauf bestehst, dass ich meine Meinung zu Detailfragen äußere, gibt es da ein oder zwei kleinere Kritikpunkte: So etwa das Fehlen jeglichen Hintergrunds für den kleinen Dämon, das den üblichen Vorstellungen von Realismus widerspricht, oder die extrem lockere Konstruktion und ein weitgehendes Defizit, wo es um Zurückhaltung des Autors geht. Das sind alles keine nennenswerten Einwände. An deinem «dämonischen Realismus» wage ich keine wirkliche Kritik. Ich habe Wunderkind schon an die Volksliteratur weitergeschickt. Da das eine offizielle Zeitschrift ist, wird sie mit Manuskripten überschwemmt, von denen die meisten tief unter hohen Papierstapeln landen. Wundere dich also nicht, dass du von deinen zwei vorangehenden Erzählungen noch nichts gehört hast. Ich habe an ein paar Mitherausgeber der Volksliteratur, die ich persönlich kenne, Zhou Bao und Li Xiaobao, geschrieben. Die beiden Baos sind alte Freunde, und ich bin sicher, dass sie sich für dich einsetzen werden.
    In deinem Brief gehst du auch auf das Thema Literatur und Alkohol ein, humorvoll, ernst und doch heiter, allseitig inspiriert, breit und doch in

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