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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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in der Zunge, dann in jeder Faser seines Körpers verspürte. Ding Gou'ers Arme lösten sich von der Taille der Lastwagenfahrerin, und er sprang erschreckt zurück. Die warme klebrige Flüssigkeit, die seinen Mund füllte, schmeckte süß und faulig. Das – so viel wusste er – verhieß nichts Gutes. Er schlug die Hand vor den Mund. Plötzlich keine Zunge mehr zu haben! Nicht gerade erfreulich, so etwas! In der langen Reihe romantischer Eroberungen, die das Leben des Ermittlers gesäumt hatten, war dies seine erste Niederlage. Du gottverdammte Schlampe!, fluchte er innerlich, während er sich vornüberneigte, um einen Mund voll Blut auszuspucken. Am Himmel leuchteten die Sterne, doch über dem Boden lag ein leichter Nebelschleier. Er wusste, dass er Blut spuckte, auch wenn er die Farbe seiner Spucke nicht ausmachen konnte. Am meisten Sorgen machte ihm natürlich die Zunge selbst. Vorsichtig versuchte er, seine Zähne und seine Lippen zu berühren. Erleichtert stellte er fest, dass seine Zunge noch angewachsen war, auch wenn ein kleines Stückchen von der Zungenspitze fehlte. Das war die Stelle, aus der das Blut strömte.
    Ding Gou'er war erleichtert, dass sie ihm die Zunge nicht abgebissen hatte. Aber der Preis für einen Kuss war hoch gewesen. Das sollte nicht umsonst geschehen sein. Was aber sollte er tun?
    Sie stand nur wenige Schritte entfernt vor ihm, so nah, dass er ihren schweren Atem hören konnte. Sie sah ihm gerade ins Gesicht. Durch das dünne Hemd spürte er die Wärme ihres Körpers. Sie starrte ihn mit hoch erhobenem Haupt an, und jetzt hielt sie einen Engländer in der Hand. Im hellen Sternenlicht sah er den wütenden Ausdruck in ihrem bewegten Gesicht. Ein wenig glich sie einem ungezogenen kleinen Mädchen. Trocken lachend murmelte er:
    «Du hast scharfe Zähne.»
    Sie atmete schwer. «Ich habe mich zurückgehalten», sagte sie. «Ich kann ein Zehnerkabel durchbeißen.»
    Der kurze Dialog heiterte den Sonderermittler wieder auf. Der Schmerz in seiner Zunge wurde zu einem dumpfen Pochen. Er streckte den Arm aus und wollte ihr auf die Schulter klopfen, aber sie sprang wütend zurück, hob den Engländer über den Kopf und schrie: «Trau dich nur! Wenn du mich anfasst, schlage ich dir den Schädel ein.»
    «Ich habe nicht vor, dir etwas zu tun, mein Schätzchen», sagte er und zog die Hand schnell zurück. «Das würde ich niemals wagen. Wir können doch friedlich darüber reden. Oder was meinst du?»
    «Schütte das Wasser in den Kühlerstutzen», sagte sie immer noch außer Atem.
    Die Nachtluft fiel schwer vom Himmel, und Ding Gou'er fröstelte. Er hob den Eimer auf und füllte Wasser nach, wie sie es ihm befohlen hatte. Plötzlich umhüllte ihn eine Dampfwolke, die vom Kühlerblock aufstieg. Jetzt wurde ihm wärmer. Das Glucksen des Wassers, das in den Kühler floss, erinnerte ihn an das Geräusch, das ein durstiger Ochse macht, wenn er mit der Zunge Wasser leckt. Eine Sternschnuppe zog vor der Milchstraße vorbei, überall zirpten Insekten, und der Wind trug den Klang von Wellen mit sich, die an ein fernes Ufer schlugen.
    Sie stiegen wieder ein. Die hellen Lichter von Jiuguo kamen in Sicht. Den Sonderermittler überfiel ein Gefühl von Einsamkeit, wie es ein Lamm verspürt, das sich von der Herde entfernt hat.
     
    Ding Gou'er streckte sich auf den weichen Sofakissen der Lastwagenfahrerin aus. Er war verzückt, bezaubert, hingerissen. Seine schweißgetränkte, alkoholgeschwängerte Kleidung lag draußen auf dem Balkon und verströmte ihren Geruch zum weiten Himmelsgefilde empor. Seinen Körper umhüllte ein lockerer, daunenweicher, warmer, gemütlicher Bademantel. Seine elegante kleine Pistole und ein paar Dutzend Patronen, die ordentlich in ihren Magazinen steckten, lagen auf einem Beistelltischchen. Der Lauf glänzte in weichem Blau, die Patronen schimmerten wie Gold. Er lag auf dem Sofa, zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und lauschte dem Plätschern im Badezimmer. Er versuchte, sich das heiße Wasser vorzustellen, das über die Schultern und die Brüste der Lastwagenfahrerin rann. Alles, was nach dem Biss in seine Zunge geschehen war, kam ihm vor wie ein Traum. Nachdem er wieder in den Lastwagen gestiegen war, hatte er kein Wort gesagt, und auch sie war verstummt. Stattdessen hatte er seine Aufmerksamkeit gewissenhaft und mechanisch auf das Röhren des Motors und das Geräusch der Reifen auf der Straße gerichtet. Der Wagen raste über die Landstraße. Jiuguo kam immer näher. Rote

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