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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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verrieten eine Art bösartiger Schönheit. In diesem Augenblick stand er vor Gott, vor dem Schicksal, vor dem dunklen Sensenmann. Ihre große bleiche Hand umklammerte den Griff, ihr Zeigefinger lag am Abzug. Ein Zucken, und die Zündnadel würde sich in die Patrone bohren. Aus Erfahrung wusste er, dass eine Pistole in diesem Augenblick kein kaltes Stück Metall mehr ist, sondern ein lebender Gegenstand, der seine eigenen Gedanken, seine eigenen Gefühle, seine eigene Kultur und Moral besitzt. In der Pistole lebt eine große Seele: die Seele dessen, der sie in der Hand hält. Unmerklich beruhigten ihn diese Träumereien, bis er sich nicht mehr auf die Mündung konzentrierte, aus der die Kugel kommen würde. Sie war auch nur ein Teil einer Waffe, sonst nichts. Er zog den Zigarettenrauch tief in die Lunge.
    Vom Hof wehte frischer Herbstwind ins Zimmer und ließ die gebauschten Seidenvorhänge zärtlich erzittern. Das Kondenswasser an der Badezimmerdecke kühlte sich ab und fiel laut tropfend in die Wanne. Er sah die Lastwagenfahrerin an, wie ein Museumsbesucher ein Bild ansieht. Er war überrascht, wie unglaublich attraktiv eine nackte junge Frau sein konnte, die eine Pistole in der Hand hielt und bereit war, sie zu benutzen. In diesem Moment war die Pistole keine einfache Handfeuerwaffe mehr, sondern ein Werkzeug sexueller Eroberung, eine Waffe auf Beutezug. Wie wir wissen, hatte Ding Gou'er eine nymphomane Geliebte. Fügen wir noch hinzu, dass er auch auf eine reichhaltige Geschichte kurzfristiger Beziehungen zurückblicken konnte. Früher hätte er seine Klauen in dieses unschuldige Lamm geschlagen wie ein blutdürstiger Tiger, der von den Bergen herabstürzt. Diesmal war alles anders: Erstens hatte er sich seit seiner Ankunft in Jiuguo in einem Labyrinth verfangen und fühlte sich verwirrt und verfolgt. Zweitens tat ihm die Zungenspitze immer noch weh. Mit diesem dämonischen Schmetterling und seinen perversen Gefühlen konfrontiert, wagte er keinen vorschnellen Schritt, besonders nicht, solange eine Pistole seinen Kopf im Visier hatte. Gab es irgendeine Garantie dafür, dass diese Dämonin nicht auf den Abzug drücken würde? Eine Pistole abzufeuern ist viel einfacher, als jemanden zu beißen; und außerdem ist es zivilisiert, modern und romantisch. Der Gegensatz zwischen der großzügigen, luxuriös ausgestatteten Wohnung, in der die Frau lebte, und der harten Arbeit, die sie leistete, verwirrte ihn. Fast hätte mich ein kleiner Kuss meine Zunge gekostet. Und wenn ich … wer übernimmt dann die Garantie für den Familienschmuck? Er unterdrückte seine bourgeoise Tendenz zur Promiskuität, besann sich auf seine überwältigende proletarische Rechtschaffenheit und saß so unbeweglich wie der Weltenberg einer splitternackten Frau und einer schwarzen Pistolenmündung gegenüber. Gefasst und sittenstreng, den Ausdruck vollkommener Ruhe im Antlitz, konnte er Anspruch auf den Rang eines tragischen Helden erheben, wie die Welt ihn noch nicht gesehen hatte. Gelassen wartete er ab, was nun geschehen würde.
    Das Gesicht der Lastwagenfahrerin wurde rot. Ihre erregten Brustwarzen zitterten wie die gefräßigen Mäuler kleiner Tiere. Der Ermittler musste das Äußerste an Zurückhaltung aufbringen, um sich nicht auf sie zu stürzen, sie nicht zu beißen. Der stechende Schmerz in seiner Zunge hielt ihn von tollkühnen Versuchen zurück.
    Sanft seufzend sagte sie: «Ich ergebe mich.»
    Sie warf die Pistole auf den Tisch und hob die Arme über den Kopf. «Ich ergebe mich», sagte sie noch einmal. «Du hast gewonnen …» Mit hoch in die Luft erhobenen Armen und gespreizten Beinen stand sie weit offen vor ihm.
    «Bist du wirklich so blasiert?», fragte sie den Ermittler aufgebracht. «Bin ich dir nicht hübsch genug?»
    «Nein, du bist ausgesprochen hübsch», sagte er ruhig.
    «Also was?», fragte sie spöttisch. «Sie haben dich doch wohl nicht kastriert?»
    «Nein, ich habe nur Angst, dass du ihn mir abbeißt.»
    «Die männliche Gottesanbeterin stirbt, wenn sie das Weibchen besteigt, aber das hält sie nicht davon ab.»
    «Möglich, aber ich bin kein Insekt.»
    «Gottverdammter Feigling!», beschimpfte ihn die Lastwagenfahrerin und wandte ihm den Rücken zu. «Verschwinde! Ich kann's mir auch mit dem Finger machen.»
    Der Ermittler sprang vom Sofa und griff mit einer Hand von hinten nach ihrer Brust. Sie lehnte sich in seine Arme zurück, drehte den Kopf und grinste ihn an. Gegen seinen Willen legte er seinen Mund auf den

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