Die Schockwelle: Thriller (German Edition)
ohne sich noch einmal umzudrehen. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, ließ sich Mira in der Küche auf einen Stuhl sinken. Es schien ihr unmöglich, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Und es schien ihr unmöglich, auch nur einen Gedanken zu fassen oder gar Entscheidungen zu treffen.
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Im zunehmenden Wind, der vom Meer her wehte, flatterten die Fahnen Finnlands und Frankreichs an den Masten vor dem Reaktorgebäude Olkiluoto 3. Es war zehn Uhr, und die Eröffnungsfeierlichkeiten hatten begonnen. Journalisten, Fotografen und geladene Gäste standen in der Eingangshalle und lauschten der Rede des Wirtschaftsministers.
»Aufgrund seiner mutigen Entscheidungen ist Finnland im Begriff, als weltweit erster Staat in ein neues Zeitalter der Stromproduktion einzutreten«, sagte der Minister ins Mikrofon. »Gleichzeitig bringt uns dieser Kraftwerksblock, zusammen mit der Nutzung erneuerbarer Energien, bei der Umsetzung des Kyoto-Protokolls weit voran. Ich habe die große Freude und die Ehre, heute Olkiluoto 3 einzuweihen.«
Der Minister nahm die Schere vom Tablett und zerschnitt mit großer Geste ein blaues Band. Auch das symbolische Drücken eines Knopfes in der Schaltzentrale war in Erwägung gezogen worden, aber weil der Reaktor bereits hochgefahren wurde, wollte man die Arbeit des Betriebspersonals nicht stören.
Der Minister übergab die Schere der Vorstandsvorsitzenden von Areva, die nun ihrerseits ein Stück des blauen Bandes abschnitt. Dann schüttelten sie einander die Hände und tauschten Wangenküsse, während pausenlos die Kameras um sie herum klickten. Auch mit dem Direktor und dem Aufsichtsratsvorsitzenden der TVO AG wurden Hände geschüttelt. Die Spitzenmanager lächelten, und die Gäste applaudierten höflich.
Trotzdem herrschte eine angespannte Atmosphäre. Alle wussten, wie sehr es unter der Oberfläche gärte. Über Jahre hinweg hatten sich die beiden Energiekonzerne Areva und TVO gegenseitig die Verzögerung des Kraftwerkbaus vorgeworfen. Noch immer suchte man im Rahmen eines internationalen Schlichtungsverfahrens nach der Antwort auf die Frage, wer für die zusätzlichen Kosten von mehreren Milliarden Euro aufkommen musste. Offenbar ließ sich ein langer, teurer Rechtsstreit nicht verhindern.
Jetzt aber sollte trotzdem gefeiert werden. Zahlreiche Vertreter internationaler Medien waren erschienen, um der Eröffnung des modernsten Atomkraftwerks der Welt beizuwohnen.
Für Anspannung sorgte allerdings eine Greenpeace-Aktion. Aktivisten hatten von Booten aus ein riesiges Transparent entrollt, wurden aber daran gehindert, es am Ufer zu befestigen. Zumindest gab es also keine unangenehmen Fotos, die an internationale Agenturen geschickt werden konnten.
Früh am Morgen war die Polizei schon einmal am Uferstreifen vor Olkiluoto gewesen, weil ein Hobbyangler aus der Gegend einen ertrunkenen Mann mit eingegipstem Arm gefunden hatte. Dieser Vorfall warf einen unschönen Schatten auf den Festtag, denn der Tote war ein französischer Elektriker und am Bau des Kraftwerks beteiligt gewesen.
Vor dem Tor der Anlage hatten sich Demonstranten mit Transparenten und Schildern versammelt. PROTOTYP OLKI-LUOTO , FINNEN ALS VERSUCHSKANINCHEN, war auf einem zu lesen. Die Parolen aus den Megafonen konnte man im Stimmengewirr der Festgäste nicht verstehen.
Nach der Eröffnungszeremonie gab es eine kurze Pressekonferenz, bei der die Journalisten die Möglichkeit haben sollten, noch offene Fragen zu stellen.
»Ist nach den zahlreichen Schwierigkeiten, den enormen Verzögerungen und den gigantischen Verlusten denn jetztalles in bester Ordnung?«, wollte eine junge Journalistin wissen.
Der Chef des Energiekonzerns warf ihr einen gequälten Blick zu. Dann sah er zuerst den Minister und dann die französische Vorstandsvorsitzende an, die jedoch lediglich mit den Schultern zuckte und lächelte.
Der Minister ergriff das Mikrofon. »Ich habe die unabhängigen Berichte zu Wirkungsgrad, Qualität und Sicherheit gelesen und kann versichern, dass das Kraftwerk hervorragende Werte hat. Wir können stolz darauf sein, dass in Finnland ein Kernkraftwerk errichtet worden ist, das der umweltfreundlichen Energieproduktion auf der ganzen Welt die Richtung weisen wird. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass es zur Atomenergie keine Alternative gibt, wenn man effektiv Energie gewinnen und gleichzeitig eine wachsende Klimaerwärmung verhindern will.«
Vor den Aufzügen, abseits der Festgäste, standen einige Angehörige des
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