Die schöne Ärztin
Bergleuten zu helfen. Und helfen heißt nicht schweigen. Hat man Grimberg und Luisenthal schon vergessen? Für mich ist der Mensch wichtiger als der Profit.«
»Wem sagen Sie das?« Dr. Pillnitz legte das Stethoskop beiseite. »Pater«, fuhr er gepreßt fort, »ich bin kein Katholik, ich bin das, was man einen Heiden nennt. Aber trotzdem möchte ich einmal mit Ihnen sprechen, unter vier Augen, ich brauche einen Menschen, der mir zuhört und der mich – vielleicht – verstehen kann.«
»Sie haben Kummer, Doktor?« Pater Wegerich sah den Arzt forschend an. Dr. Pillnitz schüttelte den Kopf.
»Kummer? So kann man das nicht nennen! Ich möchte die ganze Welt in die Luft sprengen.«
»Dann steckt eine Frau dahinter«, sagte Pater Wegerich weise.
»Sie haben es erraten.« Dr. Pillnitz strich sich über die Haare.
»Ich komme heute abend zu Ihnen.«
An diesem Abend geschah das, was den stillen Bergarbeiterort Buschhausen zu einem Vulkan werden ließ.
Auf dem Heimweg von der Zeche, zwischen den frischen Kohlenhalden, in einem Bauschuppen voll Gerümpel und Werkzeugen wurde die kleine, hübsche Krankenschwester Carla Hatz vergewaltigt.
Am zweiten Tag ihres Hierseins. Von einem Unbekannten.
Sie hatte nicht sehen können, wer es war. Von hinten war sie angefallen worden, der Kerl hatte ihr einen Sack über den Kopf gestülpt, hatte sie in die Bauhütte geschleift, ihr die Kleider vom Körper gerissen und dann das Entsetzliche getan, von dem sie nicht sprechen konnte, ohne immer wieder in einer Art Nervenschock laut aufzuschreien.
Dr. Pillnitz schaffte sie sofort ins Krankenhaus. Die Kriminalpolizei Gelsenkirchen sicherte die Spuren zwischen den Halden. Es war aber ein sinnloses Unterfangen. Hunderte von Stiefelabdrücken im Boden bildeten nur ein Gewirr. In der Bauhütte selbst fand man außer den zerrissenen Kleidern der kleinen Schwester Carla lediglich einen Knopf. Doch was bedeutete das schon. Vielleicht konnte der Sack als Indiz noch weiterhelfen.
In Buschhausen war die Hölle los. An den Tresen standen die Männer in dicken Trauben, in der Waschkaue wurde diskutiert. Der Lagerleiter des Italienlagers mußte Schutz anfordern, denn es gab nur eine Meinung in Buschhausen: Es war ein Fremdarbeiter gewesen! Niemand unter den Einheimischen sei einer solchen Tat fähig! Man kannte sich gegenseitig zu genau, man war zusammen aufgewachsen, man war Freund und Bruder zugleich.
Dr. Pillnitz goß Öl in das Feuer. Ganz beiläufig ließ er verlauten: Seit zwei Tagen ist ein italienischer Arbeiter, Luigi Cabanazzi, aus dem Lager verschwunden. Das genügte, um dreißig junge Buschhausener zum Lager marschieren zu lassen, bewaffnet mit Knüppeln und Eisenstangen.
Die Italiener verbarrikadierten die Türen und Fenster. Der Lagerleiter rief die Polizei. Der Werkschutz griff zu den Stahlhelmen. Dr. Fritz Sassen raste mit seinem Wagen zur Zeche, um zur Vernunft aufzurufen.
Es schien vergebliche Liebesmüh zu sein. Eine Abordnung des Betriebsrates sprach bei der Grubenleitung vor. Die nächste Schicht fährt nicht ein, sagten sie, wenn die Italiener mitfahren. Oder wir garantieren für nichts mehr.
Über Buschhausen lag die Drohung einer Revolution.
Mit Knüppeln, Stangen und Äxten rückte man gegen das Lager vor. Dort wurden in den Barackenzimmern Messer verteilt. Auch Pistolen, die bisher niemand gesehen hatte, tauchten plötzlich auf. Es war, als wenn in wenigen Minuten zwei Sturmfluten aufeinanderprallen würden.
Den letzten Anstoß gab die Polizei selbst. Sie hatte herausgefunden, daß der Sack, den man Carla Hatz über den Kopf gezogen hatte, aus dem Italienerlager stammte. Ein Kartoffelsack der Lagerküche.
»Platz!« schrie Willi Korfeck an der Spitze der Sturmkolonne. »Platz, Jungs … oder soll morgen eure Frau an der Reihe sein?«
Vor dem Tor zum Lager stand allein Dr. Fritz Sassen. Er hob die Hand, als die Kolonne heranmarschierte, und trat ihr auf der Straße entgegen.
3
Er sah in entschlossene Gesichter, in verzerrte Mienen, in flackernde Augen, er sah blanke Mordlust auf sich zukommen.
»Platz da!« schrie Willi Korfeck und schwang eine Eisenstange. »Wir lassen uns nicht aufhalten …!«
Dr. Fritz Sassen wich nicht von der Stelle. Er war sich jedoch im klaren, daß er mit dem Leben spielte. Sie würden ihn niederschlagen, zertrampeln – aber was kam dann?
»Leute! Seid vernünftig!« rief er. »Es hat doch keinen Zweck, sich wie die ersten Menschen zu benehmen!«
Aus dem Lager hetzte der
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