Die schöne Ärztin
Lagerleiter heran. Sein dickes Gesicht troff von Schweiß. Keuchend hielt er an, als er Dr. Sassen erreicht hatte.
»Die haben Pistolen!« schrie er. »Männer, hört ihr, das wird furchtbar, einige von denen haben Pistolen!«
Der Zug stockte. »Da sieht man es!« brüllte Willi Korfeck. »Mit 'nem Pappkoffer kommen sie, aber Pistolen haben sie in der bekackten Wäsche! Emil, Wilhelm, Theodor … los, zurück zum Schuppen drei!« Er trat einen Schritt vor und schüttelte die Faust. »Wenn die glauben, wir sind Flaschenkinder, haben sie sich verrechnet. Auch wir können schießen. Wir haben noch drei Karabiner, Modell 98 k, Andenken an 1945! Und mit denen werden wir ihnen jetzt einheizen!«
»Halt!« schrie Fritz Sassen, als er drei Mann weglaufen sah. »Macht euch nicht unglücklich! Ihr kommt alle ins Zuchthaus! Begreift, daß nicht ihr das Gesetz seid!«
»Das ist uns scheißegal!« Ein alter Hauer pflanzte sich an der Seite Korfecks auf, »die Polizei wird wieder nichts finden! Sollen wir warten, bis unsere Frauen und Töchter dasselbe erleben wie die Schwester, mit 'nem Sack überm Kopf! Dann wär's ja einfacher, sie den Itackern direkt ins Bett zu legen! Sie haben's gut, Herr Doktor, Sie schweben über den Dingen. Ihre Familie hat von den Itackern nichts zu befürchten. Aber die unseren! Am Sonntag … wir haben die Berichte gesammelt, wir haben eine Art Befehlsstelle eingerichtet … sind 29 Mädchen und Frauen von denen belästigt worden.«
»Befehlsstelle! Ja, seid ihr denn total übergeschnappt? Habt ihr noch nie Mädchen angesprochen?« Dr. Sassen zeigte mit dem Daumen über die Schulter in Richtung des Lagers. Dort standen Posten vor den Türen. Deutlich sah man die Messer in ihren Fäusten blinken. Ein Schauer lief über Sassens Rücken. »Wollt ihr eine blutige Schlacht mit denen?«
Um die gleiche Zeit saß Dr. Pillnitz an seinem Schreibtisch und vervollständigte eine Krankengeschichte. Dr. Waltraud Born wertete Röntgenaufnahmen aus. Sie stand vor dem Lichtkasten neben dem Fenster und bemerkte, daß draußen einige Bergmänner in schnellem Lauf über den Hof hetzten.
»Was ist denn da wieder los?« fragte sie. »Hoffentlich kein neues Unglück?«
»Wieso?« Dr. Pillnitz blickte auf.
»Da rennen welche zum Tor …«
»Ach so.« Dr. Pillnitz lächelte etwas verzerrt. »Das wird den Italienern gelten.«
»Den Italienern? Wieso?«
»Man hat erfahren, daß das Verbrechen an unserer armen kleinen Carla von einem der Fremdarbeiter begangen worden ist. Nun werden unsere braven Püttmänner wohl aufmarschieren –« Zufriedenheit klang in seiner Stimme. Es lief alles ab, wie er es sich wünschte. Diese ganzen Italiener sollte der Teufel holen, an der Spitze natürlich jenen Cabanazzi, der freilich nicht im Lager weilte, sondern mit Veronika Sassen verschwunden war. Dann mußte er eben erledigt werden, wenn er wieder auftauchte.
»Aber das wissen wir doch gar nicht!« sagte Waltraud Born entsetzt. Sie knipste den Leuchtkasten aus und zog die Röntgenaufnahme heraus.
»Was wissen wir nicht?«
»Daß es ein Italiener war.«
»Spielt das eine Rolle?« Dr. Pillnitz erhob sich von seinem Stuhl. »Es besteht die Wahrscheinlichkeit, das gibt den Ausschlag. Nun will die rasende Meute ihr Opfer – nicht nur ein Opfer, sondern viele. Und ich kann sie verstehen …«
»Waaas? Das kann nicht Ihr Ernst sein, Bernhard!« Waltraud sah wieder aus dem Fenster. Die Zeche lag wie ausgestorben. »Laufen Sie doch zum Lager und reden Sie den Leuten ins Gewissen! Sie können es, auf Sie hören die Männer, Sie sind der Doktor …«
Dr. Pillnitz schüttelte den Kopf. »Mein Arbeitsplatz ist hier, liebe Kollegin! Ich bin zuständig für Kranke und Simulanten, für Arbeitswillige und Drückeberger. Ich habe mich noch nie um Amokläufer gekümmert.«
»Dann gehe ich!«
Dr. Pillnitz wollte Dr. Waltraud Born am Ärmel ihres weißen Kittels festhalten. »Seien Sie nicht kindisch, Waltraud! Das ist nichts für zarte Frauen. Überlassen Sie das Dr. Fritz Sassen!«
»Dem Juniorchef?« Waltrauds Herz stockte.
»Ja. Das ist sein Bier. Wie ich ihn kenne, wird er schon am Lagertor stehen und das Schlimmste zu verhindern suchen …«
»Mein Gott!« Mit einem Ruck riß sich Waltraud Born los und rannte hinaus.
»Waltraud!« schrie Dr. Pillnitz. »So bleiben Sie doch!«
Er zögerte einige Sekunden, dann setzte er ihr nach. Als er aus dem Lazarettgebäude stürzte, sah er sie schon um die Ecke biegen. Es ist zum Kotzen mit den
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