Die schöne Ärztin
Ölung. Er hatte über seine dreckige Bergmannskleidung die Stola gehängt und wickelte sie nun um die verkrampften Finger der Stöhnenden und Schreienden, sprach zu ihnen von Gott und drückte ihnen dann die im Tode gebrochenen Augen zu.
Kurt Holtmann und Fritz Sassen kamen aus dem Förderschacht zurück. Am Füllort rissen sie sich die Masken von den Gesichtern und lehnten sich keuchend gegen die Streben.
»Es bleibt gar keine andere Wahl«, sagte Fritz Sassen. »Wir müssen zumauern.«
Pater Wegerich starrte sie von unten her an. Ein sterbender Bergmann hielt seine Hände umklammert, es war, als habe er noch Hoffnung, an der Hand des Priesters vor dem ewigen Dunkel bewahrt zu werden. »Luise –«, wimmerte der Sterbende. »Sechs Kinder habe ich … sechs … o Gott … o Gott … mein Bauch, mein Bauch –«
Unterhalb des Brustkorbes war sein Leib aufgerissen. Die Därme quollen zwischen Blut und Stoffetzen hervor. Pater Wegerich beugte sich über ihn.
»Es wird alles gut werden, alles, Kumpel. Ich bin ja bei dir –«
Er blickte wieder auf und schüttelte den Kopf. »Das lasse ich nicht zu«, sagte er zu Kurt Holtmann.
»Was lassen Sie nicht zu, Pater?«
»Daß lebende Menschen eingemauert werden.«
»Es bleibt uns keine andere Wahl«, antwortete Kurt Holtmann.
»Das lasse ich nicht zu«, wiederholte Pater Wegerich. Zu seinen Füßen starb der Bergmann, der Vater von sechs Kindern. Bis zuletzt sah er den Pater an und klammerte sich an seinen Händen fest.
»Wir können das Feuer nicht eindämmen, ohne einzumauern. Wir müssen es ersticken. Nur wenn wir es luftdicht abschließen, können wir die übrige Grube retten. Es gibt keinen anderen Weg, Pater.«
Pater Wegerich löste die Hände des Toten von seinen Händen. Er richtete sich auf und nahm die Stola in beide Hände.
»Man sagt, es sind noch über dreihundert im Schacht.«
»Ja. Aber die sind ein Opfer der Explosion geworden.«
»Und wenn noch welche leben?«
Kurt Holtmann schwieg. Er war mit dem Berg aufgewachsen, er kannte jede Sohle, er war einer von ihnen, die jetzt hinter dem Bruch vielleicht noch lebten, trotz mörderischer Hitze und Gas, trotz Luftknappheit und niederprasselndem Gestein. Er wußte, daß draußen die Mütter und Frauen und Kinder standen und hofften und beteten. Er wußte, daß er einer von denen hinter dem Bruch hätte sein können – aber die Tragödie des Bergmannes ist es ja, in der Stunde der Gefahr oft gegen sich selbst handeln zu müssen und an den Berg zu denken, an das Ganze, an die tausend anderen Kumpels.
Die ersten Loren mit Baumaterial wurden aus dem Materialschacht gefahren. Pater Wegerich fuhr hoch.
»Ich stelle mich dagegen!« schrie er. »Sie werden mich mit einmauern müssen! Sie können keine Lebenden opfern! Das ist Mord!«
»Das ist in diesem Falle Vernunft. Von mir aus: Mörderische Vernunft.« Dr. Fritz Sassen stieß den Pater grob zur Seite. Die Loren rollten weiter, dem Explosionsort entgegen. »Soll hier alles vor die Hunde gehen?«
Pater Wegerich taumelte gegen die Wand und drückte die Stola auf seine Brust. »Wie wollen Sie das jemals vor Gott verantworten?« sagte er. »Wie wollen Sie dafür Rechenschaft ablegen?«
Kurt Holtmann und Fritz Sassen stülpten die Sauerstoffmaske wieder über ihre Gesichter, schwangen sich auf eine der Loren und rollten mit ihr vor Ort. Dreißig Meter vor dem Niederbruch arbeiteten bereits die Maurerkolonnen und zogen eine Trennwand. Sie arbeiteten wie die Irren, mit fliegenden Händen und keuchenden Lungen.
Zwei Bergingenieure leiteten das Vermauern. An anderen Strecken waren drei weitere Kolonnen tätig, um Querschläge abzuriegeln. Das gesamte Explosionsgebiet wurde rundherum abgeschlossen. Nach dem ersten Schrecken, nach der lähmenden Kopflosigkeit, nach dem Begreifen, daß über Emma II das größte Unglück seit ihrem Bestehen hereingebrochen war, liefen die Rettungs- und Schutzmaßnahmen jetzt mit der Präzision eines Uhrwerkes ab. Im Betriebsführerbüro saß der Generalstab. Von hier aus wurden die Aktionen geleitet. Nebenan, in der Waschkaue, war ein Verbandsplatz entstanden. Hier arbeiteten Dr. Born und die Ärzte aus der Stadt, gaben Spritzen, verbanden Wunden, schienten notdürftig und gaben die Verletzten an die Krankenwagen weiter. Zwei Männer vom Personalbüro führten eine genaue Liste, wer alles wieder ans Tageslicht kam und in die umliegenden Krankenhäuser gebracht wurde. Nach einer Stunde hängte man die erste Liste draußen an das
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