Die schöne Ballerina (German Edition)
Gesichtszügen.
Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel und war mit ihrer Erscheinung sehr zufrieden. Eine reife, selbstbewusste junge Frau sah ihr entgegen, und Lindsay sah sich gern in dieser Rolle, denn sie vermittelte ihr das angenehme Gefühl, dem Treffen mit Seth Bannion gewachsen zu sein.
Während sie an ihn dachte, bürstete sie ihr Haar so lange, bis es im Licht der Lampe auf ihrem Toilettentisch Funken zu sprühen schien.
Warum lege ich nur so großen Wert darauf, ihn zu beeindrucken? fragte sie sich, und da sie sich selbst gegenüber ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ganz außergewöhnlich von ihm angezogen war – wahrscheinlich gerade, weil sie nicht recht wusste, was sie von ihm halten sollte. Im Allgemeinen pflegte sie Menschen, die sie kennenlernte, schnell in bestimmte Kategorien einzuordnen. Aber bei Seth war das nicht so einfach möglich. Hier hatte sie es mit einer komplizierten Persönlichkeit zu tun, und es reizte sie, ihn näher kennenzulernen.
Vielleicht ist aber auch alles ganz einfach zu erklären, versuchte sie sich einzureden. Vielleicht mag ich ihn nur, weil er Cliff House gekauft hat.
Nach einem letzten Blick in den Spiegel ging sie zum Schrank, nahm das Jackett heraus und faltete es sorgfältig zusammen. Dabei dachte sie, dass es lange her war, seit sie eine Verabredung mit einem Mann gehabt hatte.
Die Kinobesuche mit Andy und die schnellen Imbisse hinterher in einem einfachen Restaurant konnte sie nicht mitrechnen, fand sie. Andy war ihr Jugendfreund. Er war der Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte. Mit ihm zusammen zu sein hatte nichts mit einer Verabredung zu tun.
Unbewusst spielte Lindsay mit dem Kragen der Jacke, in der noch ein ganz leichter Duft von Seths Rasierwasser hing. Wie lange ist es her, seit ich zum letzten Mal mit einem Mann ausgegangen bin, fragte sie sich. Drei Monate? Vier?
Sechs Monate, entschied sie. In den letzten drei Jahren war sie nicht öfter als höchstens fünfmal ausgegangen. Und davor? Davor hatte es für sie nur das Theater gegeben.
Bereute sie das etwa? Nein, warum sollte sie? Ihr hatte damals nichts gefehlt, und was sie vor drei Jahren verloren hatte, war durch ihren heutigen Beruf ersetzt worden.
Sie blickte auf ihre rosa Ballettschuhe an der Wand und strich noch einmal zart mit der Hand über Seths Jacke. Dann nahm sie entschlossen ihre Handtasche und verließ ihr Schlafzimmer.
Die hohen Absätze ihrer eleganten Schuhe klapperten leicht auf den Treppenstufen, als sie in die Diele hinunterlief. Ein Blick auf ihre kleine goldene Uhr sagte ihr, dass sie noch ein paar Minuten Zeit hatte. Sie legte ihre Handtasche und Seths Jackett auf die alte Kommode und ging auf das Zimmer ihrer Mutter zu.
Seit Marys Rückkehr aus dem Krankenhaus wohnte sie im Erdgeschoss. Zunächst machte es ihre Krankheit unmöglich, die Treppen zu bewältigen, und später ersparte sie sich gern die Mühe. So hatte jede der beiden Frauen ein Stockwerk für sich allein und ein großes Maß an Privatsphäre.
Zwei Räume neben der Küche waren in ein Wohn- und ein Schlafzimmer für Mary umfunktioniert worden. Im ersten Jahr schlief Lindsay auf dem Sofa in dem Wohnzimmer, um immer in Hörweite ihrer Mutter zu sein. Selbst heute hatte sie noch einen leichten Schlaf und wachte auf, sobald irgendwelche alarmierenden Geräusche aus Marys Schlafzimmer zu vernehmen waren.
Als Lindsay leise an die Wohnzimmertür klopfte, hörte sie Radiomusik.
»Mutter, ich …«
Sie unterbrach sich und blieb stehen. Mary saß im Lehnstuhl. Sie hatte die Füße hochgelegt und hielt ein Fotoalbum auf dem Schoß, das Lindsay nur allzu gut kannte. Es war groß und dick und, damit es noch für künftige Generationen erhalten bliebe, in Leder gebunden. Die Seiten waren mit Fotos und Zeitungsausschnitten gefüllt. Da gab es Kritiken, Interviews und Informationen. Alle betrafen Lindsay Dunnes Karriere als Tänzerin. Es begann mit den ersten Zeilen, die der »Cliffside Daily«, über sie geschrieben hatte, und endete mit einem Bericht der »New York Times«. Ihr ganzer beruflicher Werdegang war in diesem Buch enthalten.
Wie so oft, wenn Lindsay ihre Mutter beim Durchblättern dieser Erinnerungen beobachtete, wurde sie von Schuldgefühlen und Hilflosigkeit überwältigt. Zögernd trat sie ins Zimmer.
»Mutter.«
Erst jetzt blickte Mary auf. Ihre Augen glänzten vor Erregung, und ihre Wangen waren rot überhaucht.
»Eine lyrische Tänzerin«, zitierte sie aus einem Artikel, ohne
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