Die schöne Betrügerin
aus der Stirn und begann zu sprechen: »Die Bäume in Appleby sind riesig, Robbie. Solche Kletterbäume hast du noch nie gesehen. Als ich noch ein kleiner Junge war, hab ich mir mal den Arm gebrochen, als ich von einem dieser Bäume heruntergefallen bin.
Flüsternde Stimmen rissen Phillipa aus ihrem Tiefschlaf. Verflucht und zur Hölle. Ja, reichte es nicht, dass man sie hier gefangen hielt? War es notwendig, sie so früh zu wecken, nachdem sie schon letzte Nacht kaum Schlaf abbekommen hatte?
Einen Moment später wurde ihr klar, dass es Frauenstimmen waren – und diese Stimmen sprachen über sie! Neugierig blieb sie reglos liegen und lauschte.
»Werden sie sie umbringen, Mylady?«
Phillipa war an der Antwort auf diese Frage selbst wirklich sehr interessiert. Sie zwang sich zu entspannen, während sie zuhörte.
»Falls sie wirklich für die Franzosen arbeitet, kann ich das nur hoffen. Sie hat sich in Jamies Haus eingeschlichen. Sie hätte ihn im Schlaf umbringen können und Robbie gleich mit dazu!«
»Ach, Agatha, sie sieht nicht so aus, als sei sie fähig, einen Mord zu begehen«, sagte eine dritte Stimme. »Sie dürfte kaum älter als neunzehn sein.«
»Clara, das ist keine Frage des Alters. Warum sollte sie sich verkleiden, wenn sie nichts zu verbergen hat?«
»Ich weiß nicht, Agatha.« In der Stimme schwang ein freundliches Lachen mit. »Aber du wirst es mir sicher gleich sagen, oder?«
Die erste Stimme sprach wieder; sie wechselte zwischen guter und schlechter Aussprache hin und her, als sei die Sprecherin nicht mit einem gepflegten Idiom aufgewachsen. »Aber Mylady, Mylady hat ganz Recht!«
Die Frau namens Agatha schnaubte. »Rose, ich komme noch ganz durcheinander. Ich wünsche, dass Sie uns mit den Vornamen ansprechen. Das würde die Dinge um einiges einfacher machen.«
Rose holte entsetzt Luft. »Oh! Aber das kann ich nicht!«
»Agatha, dränge sie nicht«, sagte die Frau namens Clara. »Sie wird mit der Zeit schon lockerer werden. Also, warst du einmal Zeuge, als das Mädchen den Hauslehrer gemimt hat?«
Den Hauslehrer
gemimt
? Phillipa wäre am liebsten auf der Stelle aufgesprungen. Sie hatte viele zermürbende Stunden damit verbracht, Robbie etwas beizubringen, und das schienen diese Leute nur allzu gern zu vergessen.
Robbie. Sie war jetzt völlig wach und verspürte eine tiefe, entsetzliche Besorgnis.
Clara war Lady Etheridge, soweit Phillipa sich erinnerte, und Agatha war Lady Raines. Das hieß, dass die beiden Frauen vermutlich auf dem neuesten Stand waren, was Robbies Verfassung betraf. Sie schlug die Augen auf, blinzelte und musste nicht groß die Müde spielen. »Hallo«, sagte sie probeweise und war sich, nachdem sie Agathas blutrünstige Worte vernommen hatte, nicht sicher, wie ihre Reaktion ausfallen würde.
Drei Frauen sahen sie an. Eine trat mit einem Lächeln vor. Sie war dunkelhaarig, schlank und sehr elegant gekleidet. »Guten Morgen, Miss Atwater. Ich bin Lady Etheridge, ziehe es allerdings vor, Clara genannt zu werden. Sie müssen unser Eindringen verzeihen, aber wenn nicht wir Ihnen das Frühstück gebracht hätten, dann wäre das Mr. Stubbs überlassen geblieben, wie ich fürchte.«
Phillipa fiel plötzlich wieder ein, dass sie unter ihrem Männerhemd fast nackt war. Sie zog sich eilig die Decke über die Brust und freute sich, nicht von einem männlichen Besucher geweckt geworden zu sein. »Danke, Lady… Clara. Würden Sie mir bitte sagen, wie es Robbie geht? Ich bin schon halb verrückt vor Sorge -«
Eine der beiden anderen Frauen ließ ein verächtliches Murren hören. »Halb verrückt vielleicht schon…« Die dralle Brünette verschränkte ihre drallen Arme vor der Brust und stierte Phillipa unverhohlen an.
Agatha, James’ Schwester. Seine Meinung hatte vermutlich ihr Urteil gefärbt. Phillipa versuchte, möglichst gewinnend zu wirken. Doch da sie fast unbekleidet im Bett lag, war sie diesen eleganten Damen gegenüber in einer wirklich ungünstigen Position. »Ich weiß, was Sie denken müssen, Mylady, aber ich bitte Sie -« Ihre Stimme brach unvermittelt, als sie an Robbie dachte, wie er so klein und reglos auf dem Kopfsteinpflaster gelegen hatte.
Clara trat heran, legte einen Arm um Phillipa und warf Lady Raines einen warnenden Blick zu. »Robbie hat den besten Arzt von ganz London, machen Sie sich keine Sorgen. Er hat sich den Arm gebrochen, aber ansonsten scheint er unverletzt.«
»Scheint?« Es schnürte Phillipa die Brust ab. »Er ist – er ist noch
Weitere Kostenlose Bücher