Die schöne Betrügerin
Bewegungsmangel, entschied er. Was sich durch Ruhe und gutes Essen nicht beheben ließ, würde er ignorieren. Sein Sehvermögen würde sich vielleicht nie mehr normalisieren – aber um Rache zu nehmen, brauchte man nicht viel zu lesen, oder?
Seinen scharfen Verstand benötigte er, aber sein Körper musste lediglich funktionieren. Er hatte nicht die Absicht, ewig zu leben.
Nur lang genug, um alles wieder richtig zu stellen.
Lady Raines und Lady Etheridge hatten gerade eine Auseinandersetzung, als Phillipa den Aufenthaltsraum jenseits der Geheimwand betrat. Sie durfte sich jetzt frei im Club bewegen, ihn jedoch nicht verlassen. Was allerdings keine Rolle spielte, nirgendwo sonst hätte sie mehr für Papa tun können als hier.
Der Unterschlupf der Spione war ihr immer schon sonderbar vertraut vorgekommen – als wisse sie bereits, was sich hinter der nächsten Ecke verbarg, bevor sie überhaupt dort ankam. Sie war heute Morgen erneut in der Küche gewesen, und als sie auf Kurt gestoßen war, hatte sich alles geklärt. Sie hatte ihm für das wundervolle Frühstück gedankt, und er hatte nur gemurmelt: »Nicht so gut wie das von Mama.« Erst da war ihr gedämmert, dass dieser Furcht einflößende Gigant tatsächlich ein guter Freund ihrer Mutter gewesen war. Es war, als hätte sich in den Tiefen ihrer Erinnerung eine Kerze entzündet.
Sie war früher schon einmal hier gewesen bei diesen Leuten; sie waren die gleichen Patrioten wie ihr Vater und liebe Freunde ihrer Mutter gewesen. Im Gegensatz zu Arieta, wo sie nur ein paar von den Dorfbewohnern gekannt hatten, kam dieser Ort einem wahren Zuhause am nächsten.
Zumindest wenn James sie akzeptiert hätte.
Wenigstens seine Schwester schien nichts gegen ihre Anwesenheit zu haben, denn sie verschwendete keine Zeit, Phillipa in die Debatte zu verwickeln, die sie gerade mit Clara führte.
»Ich stimme dem einfach nicht zu«, sagte Clara. »Mr. Underkind ist kein solcher Künstler, wie Thorogood einer war.«
Agatha zuckte die Achseln. »Vielleicht, aber Mr. Underkind nimmt sich Themen an, die mich persönlich interessieren. Mit Sir Thorogood habe ich nicht immer übereingestimmt, zumindest nicht, wenn Unschuldige betroffen waren wie die Frauen und Kinder der Männer, die er karikiert hat.«
Clara starrte ihre Freundin einen Moment lang an, dann wandte sie sich an Phillipa, als brauche sie Unterstützung.
»Sagen Sie, Phillipa, Sie leben doch schon seit ein paar Monaten in London, oder? Welchen Karikaturisten bevorzugen Sie? Mr. Underkind oder Sir Thorogood?«
Phillipa konnte sich zwar nicht vorstellen, weshalb der Frau des Spionagechefs an ihrer Meinung liegen sollte, aber sie bemühte sich um eine Antwort. »Um ehrlich zu sein, ich mag sie beide gleich gern. Sir Thorogood hat vielleicht besser gezeichnet, aber Mr. Underkind ist irgendwie mitfühlender, zumindest im Vergleich zu Sir Thorogood.«
Sie sann eine Weile über die Unterschiede nach. »Habe ich nicht irgendwo gehört, dass Sir Thorogood in Wirklichkeit eine Frau ist? Wenn dem so ist, dann muss sie scharfzüngig wie eine Harpyie sein. Ihr Ehemann kann einem nur Leid tun, insofern sie überhaupt einen hat -«
Von hinten kam ein kurzes Schnauben. Der Spionagechef höchstpersönlich stand unter der Tür und lachte hilflos in seine Faust. Phillipa gaffte ihn an. Sie hatte ihn für einen so würdevollen, ernsten Gentleman gehalten.
Clara stand auf, umrundete den Tisch, ging zu ihrem Gatten und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Sobald wir Zuhause sind, werde ich dir zeigen, was ›scharfzüngig‹ heißt, Dalton Montmorency!«
»Zeig es mir doch gleich.« Er schlang seiner Frau schnell den Arm um die Taille und zog sie in einen Kuss, dass Phillipa vor faszinierter Verlegenheit die Ohren sausten.
»Kommen Sie, Phillipa. Wenn die beiden loslegen, dauert es eine Weile, bis die Wogen sich wieder glätten.« Agatha geleitete sie aus dem Zimmer, aber Phillipa drehte sich noch rasch um, und sah Claras Hand auf dem Hintern ihres Mannes liegen. Es war ein hübscher Hintern, wenn auch nicht so hübsch wie der von James.
Agatha verdrehte die Augen. »Und ich dachte, Simon und ich wären schamlos. Aber wir schaffen es immerhin, unsere Ringkämpfe auf unsere eigenen vier Wände zu beschränken… meistens jedenfalls.« Das letzte Wort kam mit einer derart verträumten Laszivität über ihre Lippen, dass Phillipa erneut tief errötete.
Agatha bemerkte es. »Ach, meine Liebe, jetzt habe ich es nur noch schlimmer
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