Die schöne Betrügerin
hatte vollkommen Recht. Atwater hatte dem Liar’s Club viele Jahre lang angehört und war, aus seinen Unterlagen zu schließen, nur deshalb ausgeschieden, weil seine geliebte Frau an Schwindsucht erkrankt war.
Auf der verzweifelten Suche nach Heilung hatte der Mann seine Ersparnisse genommen und war mit seiner Familie auf Weltreise gegangen. Der Club hatte nach ein paar Jahren den Kontakt zu ihm verloren, da er genauso schnell unterwegs war, wie die Gerüchte von medizinischen Wundern kursierten.
Möglicherweise konnte Atwater für sein plötzliches Wiedererscheinen als Napoleons oberster Codeknacker – und schlimmer noch, Codierer – tatsächlich mildernde Umstände geltend machen. Dass Atwaters Genius jetzt dem Feind zur Verfügung stand, bedeutete nicht unbedingt, dass der Mann des Hochverrats schuldig war…
Aber darauf hätte James nicht einmal eine zerbrochene Kupfermünze gewettet.
Dalton warf wieder einen Blick in die Akten. »Wo ist seine Tochter?« James sah verblüfft auf. »Dem Bericht unseres Informanten zufolge ist keine Tochter in Napoleons Gefolge dabei.«
»Aus unseren Unterlagen geht hervor, dass er zu dem Zeitpunkt, als er den Club verlassen hat, ein kleines Kind hatte, ein Mädchen.« Dalton blätterte eine Seite um, dann noch eine. »Der Name wird nicht genannt. Ich frage mich, wo sie jetzt ist?«
James schloss die Augen und dachte nach. Er hatte Atwater vor all den Jahren kaum zur Kenntnis genommen, denn als junger Mann hatte er sich nicht für die gelehrten Umtriebe im Dechiffrierzimmer interessiert – nicht solange die Sabotage-Abteilung Gefahr und Abenteuer verhieß.
Abgesehen davon wäre diese Tochter für einen jungen Mann von zwanzig Jahren ohnehin fast unsichtbar gewesen. »Nun, wenn man ihr die Diagnose vor zehn Jahren gestellt hat, ist Atwaters Frau inzwischen vermutlich verstorben. Vielleicht hat die Tochter gleichfalls Schwindsucht bekommen. Es heißt, es läge in der Familie. Das würde erklären, weshalb Atwater jetzt alleine ist.«
Dalton sah in die Unterlagen. »Der arme Kerl«, sagte er leise. James wusste, dass Dalton an seine geliebte Frau Clara und an das Kind dachte, das sie sich wünschten. James rang sein Mitgefühl nieder und erinnerte sich, dass es eine gute Idee war, nie zu heiraten. Man hatte zu viel zu verlieren.
Er räusperte sich: »Vielleicht können wir das zurückverfolgen. Herausfinden, wo Atwater sich aufgehalten hat, bevor er sich Napoleon angeschlossen hat. Vielleicht hat er ja seine Tochter dort gelassen; ihr vielleicht etwas dagelassen, das uns von Nutzen ist.«
»Ich hoffe, er hat ihr ein verdammtes Handbuch dagelassen«, sagte Fisher verdrossen. »Denn das ist der einzige Weg, wie ich seine Codes je dechiffrieren kann.«
James setzte sich kerzengerade auf. »Könnte es dergleichen denn geben?«
Fisher zuckte die Achseln. »Könnte sein. Manche machen sich schriftliche Notizen, manche behalten alles im Kopf. Atwater ist brillant, aber seine Codes sind kompliziert und verwickelt. Wenn ich Atwater wäre, würde ich Buch führen, den Schlüssel notieren.«
Dalton nickte. »Wir suchen die Tochter, dann erfahren wir vielleicht etwas über den Schlüssel. Den Versuch ist es wert.«
James spürte einen überwältigenden Drang zu handeln. »Ich fahre hin.«
Dalton sah nicht einmal in seine Richtung. »Sie bleiben. Wir haben einen Späher vor Ort, der das zurückverfolgen kann.«
»Aber das ist mein Fall.«
»Ihre Aufgabe ist es, gesund zu werden. Wenn Sie in den regulären Dienst zurückkehren wollen, werden Sie Ihre ganze Kraft brauchen.« Dalton sah auf und warf einen gezielten Blick auf James’ verletzte Schulter. »Vergessen Sie nicht, dass Sie es das letzte Mal, als Sie sich mit jemandem angelegt haben, fast nicht überlebt hätten, weil Sie nicht gesund waren.«
James schnaubte. »Das ist nicht fair. Man hatte mir die Hände auf dem Rücken gefesselt. Und ich habe schlussendlich gesiegt.«
›Schlussendlich‹ ist beim nächsten Mal vielleicht zu spät.« Dalton klappte die Aktenmappe mit einem Schnalzen zu. »Es ist nicht Ihr Fall. Sie haben keinen Fall. Sie sind auf Teilzeit und bilden Stubbs aus. Und so bleibt es auch, bis ich etwas anderes beschließe.«
James knirschte mit den Zähnen, protestierte aber nicht weiter. Dalton würde sich so lange nicht bewegen, bis James ihm bewiesen hatte, dass es ihm wieder gut ging. Und bis dahin sollte Dalton auch nichts von den Nachforschungen erfahren, die James in Sachen
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