Die schöne Betrügerin
anderen Möbelstücke waren zwei Kinderstühle, die schon bessere Tage gesehen hatten. Es gab mehrere große Fenster, die für gutes Licht sorgten, und der Raum war blank geputzt, aber das war auch schon alles, was Phillipa zu seinen Gunsten sagen konnte.
Wo waren die Fibeln, die Schiefertafeln, die Schreibhefte? Und da sie schon dabei war – wo waren die Schreibfedern und die Tinte?
Sie stand mitten in diesem ziemlich unbrauchbaren Zimmer, drehte sich langsam im Kreis und inspizierte jeden Zentimeter. Als Robbie hereinkam, hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben, noch etwas zu finden, womit sie ihren Schüler unterrichten konnte.
»Und was machen wir jetzt?« Sein Blick war argwöhnisch, aber erwartungsvoll. Sie vermutete, dass er trotz der Gleichgültigkeit, die er an den Tag legte, Interesse am Lernen hatte.
»Ich muss kurz ins Arbeitszimmer gehen und etwas zum Lesen für dich suchen -«
»Das ist gar nicht gut.«
Sie blieb stehen. »Soll das heißen, du weigerst dich, mir etwas vorzulesen?«
Er zuckte die Schultern. Er hatte den Kopf gesenkt und fixierte seine Schuhspitze, die den Teppich malträtierte. »Hab ich nicht gesagt, hab ich nicht gesagt.«
Wunderbar. Ihr erster Schüler war ein unkooperativer…
Moment! Sie setzte sich auf einen der kleinen Stühle und achtete darauf, die Knie auf Männerart gespreizt zu halten. »Willst du mir damit etwa sagen, dass du gar nicht lesen kannst?«
Ihre Augen waren auf einer Höhe mit den seinen, aber er wich ihrem Blick aus. »Lesen ist was für Zuhälter.«
Sie setzte sich auf und dachte nach. »Wellington kann lesen. Willst du unser aller Anführer einen Zuhälter nennen?«
»Was? Sagen Sie das nicht noch einmal, sonst setzt es was, ob Sie ’ne Lady sind oder nicht!«
»Du kennst also mein Geheimnis.«
»Sie haben keine Gurgel«, sagte Robbie und zeigte auf ihren Hals. »Jeder Kerl hat ’ne Gurgel.«
Aha, kein Adamsapfel. Phillipa zog die Halsbinde schuldbewusst mit einer Hand nach oben. Verdammte Henkersschlinge. Dann schon lieber ein gut gemachtes Korsett. »Ich schätze, du möchtest wissen, warum ich mich so angezogen habe.«
Robbie nickte, die Arme verschränkt und die Augen zu Schlitzen verengt. Wie konnte sie sich ihm verständlich machen, ohne zu viel preiszugeben? »Es gibt da einen Mann… einen sehr mächtigen Mann… vor dem ich mich verstecken muss.«
»Robbie schien skeptisch. »Mächtiger als James?«
Obwohl Mr. Cunnington Napoleon in körperlicher Hinsicht ohne Zweifel deklassierte – Himmel, diese Schultern! –, zögerte Phillipa nicht. »Ja, ich fürchte schon. Willst du mir helfen, mich noch eine Weile versteckt zu halten?«
Robbie taxierte sie einen Augenblick, dann nickte er. »Aber Sie brauchen selber auch Unterricht«, sagte er. Er zeigte auf den Stuhl. »Kerle sitzen nicht so.«
Phillipa sah an sich hinab und entdeckte, dass sie beim Sprechen die Knie zusammengenommen und die Füße schräg nebeneinander gestellt hatte, was einen züchtigen Blick auf die bestiefeiten Knöchel unter den schäbigen Hosenbeinen erlaubte. Hätte ein Gentleman sie so gesehen, er hätte sie definitiv für wunderlich gehalten. »Absolut richtig, danke, dass du mich darauf aufmerksam machst.« Sie rutschte wieder nach vorn und reckte die Knie auseinander – entgegen ihrer lebenslangen Gewohnheit. »Wie ist das?«
Robbie neigte den Kopf zur Seite. »Nicht schlecht. Jetzt müssen Sie kratzen.«
Sie zwinkerte. »Bestimmt nicht!«
»Wollen Sie das jetzt lernen oder nicht?«
»Aber… Gentlemen kratzen nicht! Nur gewöhnliche-« Sie hielt inne, weil ihr eingefallen war, dass Robbie aus einfachen Verhältnissen stammte. Er kratzte sich an der Nase. »Da haben Sie vielleicht Recht. Ich hab James nie kratzen sehen…«
»Dann brauche ich also nicht zu kratzen?«
»Vermutlich nicht. Und jetzt spucken…«
»Nein.
Das mache ich nicht.«
Er betrachtete sie. »Muss ja nicht oft sein. Aber probieren Sie’s lieber einmal, damit Sie wissen, dass Sie’s auch können.«
»Das schaffe ich mit Sicherheit, sollte sich je die Notwendigkeit ergeben.« Niemals. Wirklich niemals.
»Aber Sie denken besser dran. Es kann ja passieren.«
»Also jetzt, da du mein Geheimnis kennst, ist es nur fair, wenn du mir auch deines erzählst, oder?« Sie neigte sich näher an den Jungen heran und flüsterte: »Falls du nicht lesen kannst, schüttelst du einfach den Kopf.«
Sie wartete. Die Sonnenstäubchen tanzten zwischen ihnen durchs Licht, während sich die Sekunden
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