Die schöne Betrügerin
Und Phillipa auch. Sie kämpfte mit dem Gewicht der Pakete und der Leere in ihrem Magen.
Wäre sie noch sie selbst gewesen, in ihrem alten Leben, dann hätte sie einen Lakaien gehabt, der auf sie aufpasste und ihr die Einkäufe trug. Der im Notfall sogar Robbie getragen hätte. Und vermutlich hätte ihr ansonsten jeder Mann, dem sie begegnet wäre, seine Hilfe angeboten.
Aber so wie die Dinge lagen, erwartete man nicht nur von ihr, dass sie mit jedweder Last zurechtkam, sondern auch noch jeder Lady, die ihre Röcke auch nur andeutungsweise in ihre Richtung raffte, die Tür aufhielt. Wie es schien, waren die Privilegien der Männer nicht ausschließlich erfreulich.
»Ich will meinen Tee.« Robbies Stimme hatte den unangenehmen Ton einer rostigen Türangel angenommen.
»Ich will auch meinen Tee«, geiferte Phillipa. »Sieh zu, dass du mithältst, sonst trinke ich dir alles weg, bis du endlich zu Hause bist.«
Sie schleppte sich weiter. Die Füße rutschten ihr in den zu großen Stiefeln herum, bis ihre Fersen von Blasen übersät waren. Sie hätten eine Droschke nehmen können, aber Phillipa sah sich nicht in der Lage, sich von den paar Pennys Fahrgeld zu trennen. Schließlich wusste sie nicht, wie lang ihr derzeitiger Wohlstand anhalten würde.
Sie bog in eine Querstraße ein, die aussah, als sei sie gerade zum Leben erwacht, während in allen anderen Straßen für den Rest des Tages Ruhe einkehrte.
Restaurants, dachte sie, als Essensduft in ihre Richtung wehte und ihr die Knie weich werden ließ. Aber da waren keine dekorierten Fenster oder Wirtshausschilder. Private Clubs also, was allerdings die Gerüche, weil verboten, nur umso verführerischer machte.
Es wurde ihr zu viel. Sie hievte die Pakete ein Stück nach oben und drehte sich um, um über die Schulter mit Robbie zu sprechen. »Robbie, wir sollten den restlichen Weg vielleicht eine Droschke -«
Robbie war nirgendwo zu sehen. Nicht hinter ihr, nicht vor ihr, nicht auf dem Bordstein rastend. So schwer beladen sie auch war, trieb die Panik sie in den Laufschritt. Sie hastete den Weg, den sie gekommen waren, ein paar Blocks weit zurück.
Keine Spur von Robbie. Sie fragte einen Fremden nach dem anderen, aber keiner hatte einen kleinen Jungen gesehen, der einen großen Globus schleppte. Sie kehrte zu der Kreuzung zurück, an der sie ihn verloren hatte, und zögerte. Sie war sich sicher, dass er sie nicht überholt hatte.
Der Geruch von Rindfleisch und Bratensoße ließ sie aufmerken. Robbie war genauso hungrig wie sie. Hatte er wirklich geglaubt, dass jemand aus diesen exklusiven Clubs einem leicht verdreckten Jungen von ungefähr zehn Jahren etwas zu essen geben würde?
Sie lief die ganze Straße hinunter und rief nach ihm. Keine Spur von dem standhaften kleinen Jungen mit dem Globus.
»Er ist ein schlauer Bursche«, sagte sie sich, während Panik sie packte. Sie hätte ihn niemals so anblaffen dürfen. Ach, wie hatte sie nur annehmen können, diese Sache zu meistern, obwohl sie doch keine Ahnung von Kindern hatte. Sie hatte als Hauslehrer jetzt schon versagt, und sie machte ihren Job noch keinen ganzen Tag.
»Er lebt schon länger in London als ich«, murmelte sie vor sich hin. Sie hielt den Blick gesenkt, spähte in jeden Durchgang und unter jede Karre, dann machte sie kehrt und lief noch einmal die Straße entlang.
Sie bückte sich sogar, um einen Stapel Lattenkisten zu inspizieren, der in der Hofeinfahrt eines Clubs stand. Nichts. Sie richtete sich auf, drehte sich um – als sie gegen den wuchtigen Männerkörper prallte, warf es sie um.
Das Papier rutschte aus der Verpackung und flatterte auf das rußschwarze Kopfsteinpflaster, und die kostbare Schiefertafel zerbarst auf dem Stein.
Es war ihr alles zu viel. »Verdammter Mist!« Sie kam wieder auf die Füße, bereit, ihre Wut und ihre Angst an der erstbesten Person auszulassen, die ihr unter die Augen kam.
Vor ihr stand James Cunnington, den der Zusammenstoß charmant derangiert hatte, und sah sie mit geschürzten Lippen an. Schon wieder war er lautlos vor ihr aufgetaucht.
Diese Angewohnheit ermüdete sie langsam.
»Ich hoffe, Sie lassen Robbie nicht hören, wenn Sie sich so ausdrücken, Phillip.«
»Oh. Nein – nein, natürlich nicht.« Was nicht gelogen war. Sie hatte vor Robbie nur auf Russisch geflucht. »Robbie! Er ist weg! Ich habe schon überall gesucht, keine Spur von -«
»Es geht ihm gut. Er hat einfach nur in meinem Club vorbeigeschaut, um einen Happen zu essen. Ich glaube,
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