Die Schöne des Herrn (German Edition)
auf der Straße. Zwei Tauben in zärtlicher Liebe vereint. Die blöden Gedichte, die ihre französische Lehrerin sie hatte auswendig lernen lassen. Mademoiselle Deschamps hatte sie geheißen. Weidenruten, Weidenruten, beugt geschmeidig euch den Fingern dessen, der die Körbe flicht. Zwei große Ochsen habe ich in meinem Stall, zwei große Ochsen, weiß mit roten Flecken. Es hatte irgendetwas zwischen ihrem Vater und der Deschamps gegeben. Der jüdische Intendant ihres Vaters, die Mütze in der Hand, sein Katzbuckeln, ein widerliches Gesicht. Auch Béla Kun war Jude. Und Béla Kun hatte Onkel Istvan erschießen lassen, den General Graf Kanyo. Nie hätte ihr Vater einen Juden bei sich empfangen.
Genthod-Bellevue. Bald Genf, bald der Bahnhof. Zu Beginn ihrer Liebe hatte er sie, wenn sie zu ihm nach Paris gefahren war, auf dem Bahnhof erwartet, groß, ohne Hut, mit wirrem Haar, absurd neben dem Fahrkartenkontrolleur. Sein Lächeln, wenn er sie erblickt hatte, und dann hatte er ihren Arm genommen. Sie war erstaunt gewesen, ihn auf dem Bahnhof zu sehen, es war nicht seine Art, jemanden abzuholen. Im Hotel, es war das Plaza, hatte er sie gleich ausgezogen, das Kleid war oben gerissen, und dann hatte er sie zum Bett getragen, und die zweiundvierzigjährige Idiotin war so glücklich, so stolz gewesen. Dabei war sie bereits alt gewesen, damals schon alt gewesen, warum also? Hätte er sie nicht in Ruhe lassen können? All ihre Bemühungen drei Jahre lang, um sich schön zu machen. Die Schönheitssalons, was hatten sie genützt? Bei den Toten wachsen die Haare in den ersten Tagen noch auf den Beinen nach. Sollten sie ruhig wachsen, es war ihr jetzt egal. Da ist der Bahnhof, die Abfahrt ins Nirgendwo. Sich noch einmal wie eine Lebende benehmen.
Der Chauffeur bekam ein so überreichliches Trinkgeld, dass er aus Klassensolidarität einem Gepäckträger zuzwinkerte, der, auf das lukrative Geschäft aufmerksam gemacht, herbeieilte, den Koffer ergriff und nach dem Zug fragte. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, und befeuchtete die Lippen. »Nach Marseille, Madame?« – »Ja.« – »Der ›Sieben Uhr zwanzig‹, wir haben gerade noch Zeit, haben Sie schon Ihre Fahrkarte?« – »Nein.« – »Dann beeilen Sie sich, Madame, schnell, ich erwarte Sie am Zug. Erste Klasse?« – »Ja». – »Laufen Sie, Madame, Sie haben noch vier Minuten, der letzte Schalter, beeilen Sie sich!« Ganz allein auf der Welt, einen Brechreiz unterdrückend, eilte sie davon, den Hut schief auf dem Kopf, rannte und wiederholte sich Marseille, Marseille.
Eine Stunde nach ihrer Ankunft verließ sie ihr Hotel, überquerte im Laufschritt die Canebière, wäre beinahe überfahren worden, bog in eine kleine Seitenstraße und blieb vor einem Pudel stehen, der an einem Eisengitter angebunden war und ungeduldig und ängstlich auf die Rückkehr seines Frauchens aus dem Lebensmittelgeschäft nebenan wartete, an seiner Leine zerrte und sich sämtliche Glieder seines Körpers auszurenken schien, um in das Innere des Ladens schauen zu können. Würde sie nun endlich kommen? Warum brauchte sie so lange? Hatte sie ihn vergessen? Oh, wie groß sein Kummer war! In äußerster, fast menschlicher Unruhe zog er winselnd unablässig an seiner Leine, zog, um dem geliebten, grausamen Frauchen näher zu sein, um sie endlich aus dem Laden zu holen, wartete, hoffte, litt. Sie bückte sich und streichelte ihn. Auch er war unglücklich. Sie überquerte erneut die Straße, trat in eine Apotheke und verlangte Veronal. Der Mann mit der Brille sah die Frau mit dem zerzausten Haar prüfend an und fragte sie, ob sie ein Rezept habe. Nein? In diesem Fall könne er ihr kein Veronal geben. Sie dankte und ging hinaus. Warum habe ich eigentlich gedankt? Weil ich eine Verliererin bin. Rue Poids-de-la-Farine. Eine gute Idee, dass sie ihm in ihrem Brief gesagt hatte, sie würde nach Ungarn zurückkehren, weil sie dort Ruhe fände. Pharmacie Principale. Die gleiche Weigerung. Die Frau im weißen Kittel bot ihr Passiflorin an, ein Beruhigungsmittel auf Pflanzenbasis. Ja, vielen Dank. Sie bezahlte, ging hinaus, blickte sich um, legte das Mittel an eine Mauer und schaute vor sich hin. Hätte er sie nicht in Ruhe lassen können? Zu einem Arzt gehen und sich Veronal verschreiben lassen? Nicht die Kraft dazu, sie war so müde. Eine kleine möblierte Wohnung mit einem Gasherd mieten? Aber wo sollte sie eine finden? Auch dazu fehlte ihr die Lebenskraft. Selbst zum Sterben braucht man Lebenskraft.
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