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Die Schöne des Herrn (German Edition)

Die Schöne des Herrn (German Edition)

Titel: Die Schöne des Herrn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Cohen
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dieser Tage so viel von Diphtherie rede, nicht wahr? Es tue ihr wirklich leid, ihn zu so später Stunde zu stören. Aber durchaus nicht, beruhigte er sie, der kleine Spaziergang werde ihm gut tun bei dem schönen Wetter.
    »Et vera incessu patuit dea«,
murmelte er, als er den Hörer auflegte.
    Herrlich, diese Stelle, wo Äneas in der vor ihm erschienenen jungen Jägerin seine Mutter Venus wiedererkennt. Herrlich, ja, aber schwer zu übersetzen. In seinem langen Nachthemd stand er im Zimmer und suchte nach einer dem Original würdigen Übersetzung. Dann fiel ihm plötzlich wieder das Schreien des Dardier-Babys ein, er zog sich eilig an, strich sich sorgfältig die langen Schnurrbartspitzen nach unten und ging hinaus. Als er vor seinem Wagen stand, spielte das Glockenspiel von Saint Pierre die kleine Melodie aus Rousseaus
Le Devin du Village
, und er nickte und dachte an die lieben Dardiers. Ja, eine schöne, vielköpfige und einträchtige Familie. Keine sehr alten Genfer, zugegeben, aber gute Partien. Schade, dass es während des Ancien Régime keine Dardiers im Kleinen Rat gegeben hatte. Das hätte das moralische Ansehen der Familie noch erhöht.
    Nachdem er die Karbidlampen angezündet hatte, steckte er eine Kurbel in das Loch unter dem Kühler und drehte mit beiden Händen daran. Die launische Karre schien gut aufgelegt, denn sie sprang sofort lärmend an. Der glückliche Besitzer erklomm daraufhin den hohen Sitz, umfasste die Lenkstange, und das bereits aus diversen Öffnungen rauchende Ungeheuer stob nach einem Kastagnettensolo trompetend davon. Stolz auf seine Leistung, fühlte Agrippa d’Auble sich als vortrefflicher Fahrer und quetschte siegesbewusst den Ball der alten Hupe.
    »Überlegen wir noch mal.
Et vera incessu patuit dea

    Plötzlich rollte der Wagen auf den Gehsteig, denn es war ihm gerade eine gute Übersetzung eingefallen. Aber ja, er brauchte nur zu sagen, dass ihr Schreiten sie als wahrhaftige Göttin offenbart. Ausgezeichnet. Elegant und ganz der knappen Form des Originals entsprechend. Aber eigentlich doch nicht. Das »wahrhaftige« machte den Satz schwerfällig. Es vielleicht weglassen und sagen, ihr Schreiten offenbart sie als Göttin? Ja, aber im Text stand
vera
. Sagen, ihr Schreiten offenbart sie wahrhaftig als Göttin? Er deklamierte die neue Fassung mit lauter Stimme. Nein, das Adverb war viel zu plump. Sagen, ihr Schreiten offenbart sie als wahre Göttin? Nein, das hinkte, und das »Schreiten« wirkte schwerfällig. Warum nicht einfach »Schritt«?
    Die hüpfende Klapperkiste hatte weder in ihrem Schreiten noch in ihrem Schritt die Anmut einer antiken Göttin und fuhr auf gut Glück im Zickzack durch die Rue Bellot, während der Lateiner nach Vollkommenheit strebte. Plötzlich fuhr sie wieder geradeaus, denn er hatte die Lösung gefunden.
    »Und ihr Schritt offenbart sie als Göttin!«, verkündete er laut und vor unschuldiger Freude strahlend.
    Das war es! Das
vera
einfach weglassen! Sich ruhig eine kleine Freiheit erlauben! Das »wahr« oder »wahrhaftig« in Verbindung mit »Göttin« war überflüssig, denn eine Göttin ist immer wahr, vom heidnischen Standpunkt aus natürlich. Virgil hatte sein
vera
nur der Prosodie wegen hinzugefügt.
Vera
war lediglich ein Füllsel, unnötig im Französischen und sogar störend.
    ›Und ihr Schritt offenbart sie als Göttin!‹«, wiederholte genüsslich der liebe Mann.
    Während er an der Tür der Dardiers klingelte, lächelte er der herrlichen jungen Göttin zu. Er ahnte nicht, dass er in die junge Jägerin mit den nackten Knien, die Äneas erschienen war, verliebt war und dass seine gewissenhafte Übersetzung eine respektvolle Art war, ihr den Hof zu machen.

***

    Nach Champel zurückgekehrt, hatte er nicht den Mut, seine Kleider aufzuhängen, und warf sie auf einen Stuhl. Er zog sein rotbesticktes Nachthemd über, glitt unter die Laken und lächelte zufrieden. Schließlich war es ja erst drei Uhr morgens. Er hatte noch vier Stunden Schlaf vor sich.
    »Denn Dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit«, murmelte er, schloss die Augen und schlummerte ein.
    In dem großen Salon in Onex ging seine Schwester Valérie, einen flachen Hut auf dem Kopf unter ihrem geöffneten Sonnenschirm, auf und ab, wiederholte, es klingele an der Tür, und befahl ihm, öffnen zu gehen. Er rieb sich die Augen und begriff, dass sie sich getäuscht hatte, dass es das Telefon war. Wie spät? Vier Uhr. Er nahm den Hörer ab und erkannte die

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