Die Schöne des Herrn (German Edition)
goldbraune Stimme.
»Onkel Gri, ich kann nicht schlafen. Sagen Sie, könnten Sie nicht kommen und mir ein bisschen Gesellschaft leisten?« – »Ich soll jetzt nach Cologny kommen?« – »Ja, bitte, ich muss Sie unbedingt sehen. Aber ich will nicht, dass Sie mit Ihrem Wagen kommen, er wird bestimmt eine Panne haben, und dann mache ich mir Sorgen, ich werde Ihnen telefonisch ein Taxi bestellen. Dann können wir uns ausführlich unterhalten, nicht wahr?« – »Ja, wir werden uns unterhalten«, sagte er, die Augen geschlossen, um noch ein bisschen Schlaf zu bekommen. – »Und dann lege ich mich hin, und Sie bleiben an meinem Bett, nicht wahr?« – »Natürlich«, sagte er und stopfte sich das Kopfkissen hinter den Rücken. – »Und dann lesen Sie mir aus einem Buch vor und halten mir die Hand, und dabei werde ich einschlafen. Aber Sie müssen ihre Hand dann ganz allmählich fortnehmen, um mich nicht aufzuwecken, ganz langsam und behutsam.« – »Ja, mein Kind, ganz langsam und behutsam. Dann werde ich mich also anziehen.« – »Wissen Sie, Onkel Gri, ich bin sehr glücklich, weil ich eine Freundin habe, die ich sehr liebe, und sie kommt übermorgen Abend an, sie ist so intelligent, wenn Sie wüssten, und so edel.« – »Aha«, sagte er nach einem nur mühsam unterdrückten Gähnen. »Ist sie Protestantin?« – »Nein, keine Protestantin.« – »Katholikin?« – »Israelitin.« – »Ach so, nun ja, sehr gut. Das ist übrigens das Volk Gottes.« – »O ja, Onkel Gri, das Volk Gottes, dessen bin ich ganz sicher! Hören Sie, wir werden zusammen frühstücken und uns in die Augen schauen, und ich werde Ihnen von meiner Freundin erzählen. Sie heißt Solal.« – »Aha, sehr gut, sehr gut. Solal aus Paris ist ein ausgezeichneter Herzspezialist.« – »Sagen Sie, Onkel, wie weit sind Sie mit Ihrem Manuskript über Calvin?« – »Ich habe Kapitel zwanzig beendet«, sagte er, plötzlich lebhaft geworden. »Ich habe es Idelette de Bure gewidmet, einer würdigen Witwe und Mutter mehrerer Kinder, die unser Reformator im Jahre 1541 durch Vermittlung Bucers aus Straßburg heiratete, da die von Farel vorgeschlagene Kandidatin ihm nicht zugesagt hatte. Idelette hingegen gefiel ihm sofort wegen ihrer Bescheidenheit und Sanftmut. Und es ist rührend, dass er wie ein Vater für ihre Kinder aus erster Ehe gesorgt hat. Leider beging die Tochter Judith, die sich 1554 verheiratet hatte, 1557 oder 1558 Ehebruch. Ehebruch, die Stieftochter unseres Reformators, stell dir vor!« – »Ja, das ist schrecklich!« – »Er hat sich sehr darüber gegrämt.« – »Das ist wirklich sehr traurig, aber nun beeilen Sie sich, ich werde gleich das Taxi bestellen.« – »Ja, ich beeile mich«, sagte er und stieg, hager und groß in seinem langen Nachthemd, aus dem Bett.
Zwanzig Minuten später saß er in seinem neuen Anzug aus dem Haus
L’Enfant Prodigue
und einen mit einem Band am ersten Westenknopf befestigten Panamahut auf dem Kopf im Taxi, lächelte glücklich, fühlte sich frisch und munter und atmete in vollen Zügen die frische Luft des noch nicht angebrochenen Morgens. Aber die Amseln sangen bereits vergnügt und fanden das Leben schön.
Er schlug die Beine übereinander und lächelte Ariane zu, die so sehr der Äneas erschienenen Göttin, der Jägerin mit den bloßen Knien, glich. Mit welch zauberhafter Begeisterung hatte sie ihm von diesem Fräulein Solal erzählt, wahrscheinlich eine Verwandte des Herzspezialisten und folglich aus guter Familie. So hübsch, die liebe Ariane, ganz das Ebenbild ihrer Großmutter als frischgebackene Ehefrau. Wie schade, dass er nicht daran gedacht hatte, die letzten Seiten seines Manuskripts mitzunehmen. Die liebe Kleine interessierte sich so sehr dafür. Erst neulich Abend hatte ihr das Kapitel über das Dogma von der Vorherbestimmung so sehr gefallen, er hatte es wohl bemerkt. Und vorhin dieser Schrei der Empörung, als sie vom Ehebruch der Stieftochter Calvins gehört hatte, das kam bestimmt aus tiefstem Herzen. Sie war wirklich die Tochter des lieben Frédéric. »Ganz gewiss«, bestätigte er sich und nickte. Nun, dann würde er ihr eben das dreizehnte Kapitel des ersten Briefs an die Korinther vorlesen, das so schön und so bewegend ist, und anschließend würden sie es gemeinsam kommentieren. Er blickte zum Himmel empor und lächelte, einer erhabenen Wahrheit gewiss. Lieber alter Agrippa, gütiger und sanfter Christ, ich habe dich geliebt, und du hast es nie geahnt. Liebes Genf meiner
Weitere Kostenlose Bücher