Die Schöne des Herrn (German Edition)
zu zerreißen. »Verloren verlüren verleren, verluren«, murmelte er ohne Unterlass, denn im Unglück muss man sich klägliche Zerstreuung suchen, erbärmliche Zerstreuung, indem man an einem Bindfaden zerrt und sich idiotische Worte vorsagt, eine Zerstreuung, um das Unglück zu ertragen, um weiterleben zu können.
LXXX
Fröstelnd in seinem Mantel, wanderte er den ganzen Tag umher, stieg Treppen hinauf und hinunter, trat in die Zimmer, machte Licht, öffnete und schloss Schubladen, betrachtete sich in den Spiegeln, um nicht allein zu sein, knipste das Licht aus, ging hinaus, setzte sich auf eine Stufe der Treppe, um zerstreut in einem bei Papi gefundenen Buch zu blättern, stand plötzlich wieder auf, lief erneut im Haus umher, redete manchmal mit ihr, sagte, »guten Tag, Liebling« oder »gute Nacht, Liebling«, summte manchmal vor sich hin oder murmelte mit einem kleinen Lächeln, »ich bin der betrogene Ehemann, der ewig betrogene Ehemann«.
Um neun Uhr abends war er wieder bei ihr, öffnete die Tür des Schranks, betrachtete die darin hängenden Kleider, tote Gehängte, und beugte sich vor, um ihren Duft einzuatmen. Jetzt ist sie in Florenz, bereits in einem Bett mit dem anderen, sie hatten es ja so eilig. Ihn hatte sie im Grunde nie gewollt, immer Ausreden, Müdigkeit, Kopfschmerzen. Er zog die Augenbrauen hoch und schaltete das Radio an. Eine satte Stimme teilte ihm mit, dass das Leiden eine spirituelle Bereicherung sei. Natürlich, es war ja Sonntag. Er schaltete es aus und öffnete die Schublade mit den kleinen Taschentüchern. So niedlich, wenn sie sich schnäuzte. Er stieß mit dem Fuß gegen den Teddybären, der auf dem Boden lag. Er hob ihn auf.
»Komm, wir gehen aufs Klo, ich muss mal.«
Er ging hinunter, Patrice an der Hand, und betrat sein Badezimmer. Er setzte den Teddybären mit Papis Buch auf den weißlackierten Schemel vor dem Klosett, um Gesellschaft zu haben. Dann klappte er den Sitz aus imitiertem Mahagoni herunter, schob die Schöße seines Mantels zur Seite, band die Kordel seiner Pyjamahose auf und setzte sich. Komisch diese Verspätung. Normalerweise funktionierte es bei ihm ganz regelmäßig, immer morgens gleich nach dem Erwachen. Das war wohl der Schock. Auch auf der Reise hatte er unter Verstopfung gelitten. Im Grunde hatte alles Ungewöhnliche diese Wirkung. »Ja, einfach so tun, als hätte sie nie existiert«, sagte er zum Teddybären und erhob sich. Nach der Verrichtung aller Rituale zog er an der Kette, sah das Wasser aufbrausen und sah zu, wie das Porzellanbecken wieder weiß und sauber wurde. Ja, die Zeit heilt alle Wunden.
»Ich schaffe es schon, du wirst sehen.«
Er setzte sich wieder hin, zog ein Blatt Toilettenpapier aus dem Spender, faltete es in parallele Streifen und machte einen Fächer daraus, den er vor seinem Gesicht hin und her bewegte. Die gemeinsamen sonntäglichen Frühstücke. Sie liebte viel Butter. Was für Butterbrote sie sich schmieren konnte. Und dann plauderten sie in aller Freundschaft. Damals hatte er noch für sie existiert, war ihr Mann gewesen. Wenn sie vom Pilzesammeln zurückkam, konnte sie es gar nicht erwarten, ihm ihre Ausbeute zu zeigen. Und wie sie dann tief einatmete, ganz stolz war und Gratulationen erwartete. Ein kleines Mädchen war sie in solchen Augenblicken. Den anderen bedeutete das alles nichts, aber für ihn war es göttlich. Und jetzt nie mehr. Jetzt war sie glücklich in Florenz, und er saß ganz allein auf einem Klosett. Er schniefte. Mit der einen Hand seine herunterhängende Hose haltend, stand er auf, ging zum Spiegel über dem Waschtisch, um seine Tränen zu betrachten, und murmelte vor sich hin.
»Ich denke an alte Zeiten und weine bitterlich.«
Er schnäuzte sich in das Toilettenpapier und zog an der Kette, zog ohne jede Notwendigkeit, suchte nur einen Trost im tadellosen Funktionieren der Wasserspülung. Ungenügend als Lebenszweck. Er griff nach dem Kamm auf dem Glasbrett und setzte sich wieder ohne jede Notwendigkeit auf die Klobrille. Als er klein gewesen war, war er, wenn Mammi ihn ausgeschimpft hatte, immer auf die Toilette gegangen, um sich zu trösten. Er stand auf. Seine Füße waren durch die heruntergerutschte Hose behindert, und er ging mit kleinen Schritten, um sich im Spiegel das Kind anzusehen, das er gewesen war und das er auch unter dem Bart erkannte, den artigen und fröhlichen achtjährigen Didi, den guten Schüler, der hoffnungsvoll ins Leben getreten war, der nicht ahnen konnte, was ihn einmal
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