Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schöne des Herrn (German Edition)

Die Schöne des Herrn (German Edition)

Titel: Die Schöne des Herrn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Cohen
Vom Netzwerk:
immer wieder, während er die Treppen hinunterging. Im dritten Stock gab er sich zwei Ohrfeigen und dann einen Aufwärtshaken unter das Kinn, der so heftig war, dass er sich auf eine Stufe setzen musste. Wieder zu sich gekommen, stand er auf und ging vorsichtig weiter nach unten. Im ersten Stock blieb er stehen, denn es wurde ihm bewusst, wie gemein es von ihm gewesen war, ihr ganz allein den Ärger mit den Hotelleuten überlassen zu haben. Empört versetzte er sich einen so heftigen Faustschlag auf das rechte Auge, dass es sich blau färbte. Im Erdgeschoss, wo der Nachtportier schnarchte, schlich er sich auf Zehenspitzen hinaus, überquerte die fast menschenleere Canebière und gestikulierte wild wie ein Redner, nach wie vor hinkend. »Mein armes Kind, mein armer Verrückter«, murmelte sie am Geländer ihres schmalen Balkons, von dem aus sie ihm nachblickte. Was war mit ihm, warum hinkte er? »Sei lieb, sei nicht mehr böse«, murmelte sie.
    Nachdem sie das Fenster geschlossen hatte, rief sie den Portier an, sagte, sie müssten dringend abreisen wegen eines Krankheitsfalles, und bat ihn, die Rechnung fertigzumachen. Sobald die Koffer gepackt waren, machte sie ein paar Entwürfe, schrieb den Text ins Reine, und las ihn sich mit leiser Stimme vor. »Monsieur, empfangen Sie die beiliegende Entschädigung mit dem Ausdruck unseres aufrichtigen Bedauerns für den Schaden, der infolge von Umständen verursacht worden ist, die von uns nicht beabsichtigt waren.« Noch ein Wort des Dankes hinzufügen? Nein, diese Tausende von Francs genügten vollauf. Sie legte den Brief und die Banknoten in einen Umschlag, auf den sie schrieb: »Persönlich. Für den Herrn Direktor des Hotels Noailles. Dringend.«
    Sie traute sich nicht, nach dem Fahrstuhl zu klingeln, und ging mit den beiden Koffern die vier Stockwerke hinunter. Im Erdgeschoss angelangt, lächelte sie dem Portier zu, gab ihm ein großes Trinkgeld, um sich sein Wohlwollen zu sichern, und nutzte den Augenblick, in dem er die Rechnung quittierte, um den Umschlag unbemerkt unter eine Zeitung auf dem Empfangstresen zu schieben.
    Taxi. Ein alter Chauffeur, einen weißen Spitz neben sich. »Zum Bahnhof bitte, Monsieur«, sagte sie, damit der Portier, der soeben die Koffer eingeladen hatte, es hören konnte. Auf diese Weise würden die Leute vom Hotel sie nicht finden können, nachdem sie den grauenhaften Zustand des Zimmers entdeckt hätten. Zwei Minuten später beugte sie sich vor, klopfte an die Trennscheibe, sagte dem Fahrer, sie habe es sich anders überlegt, und bat ihn, sie zum Splendide zu fahren, vielen Dank, Monsieur.
    Ein Schmerz durchfuhr ihre Brust, und sie hatte das Gefühl, sie habe in einem früheren Leben ein ganz ähnliches Abenteuer erlebt, ein schreckliches Abenteuer, in dem sie von der Polizei verfolgt wurde und das Hotel wechseln musste und wie ein gehetztes Wild Haken schlug. Ganz allein auf der Welt, sie und er. Er ein Punkt an einem Ort der großen Stadt, und sie ein zweiter Punkt an einem anderen Ort. Zwei Punkte, miteinander verbunden durch einen sehr dünnen Faden. Zwei Schicksale, die sich aufeinander zubewegten. Und wenn er nicht in dieses andere Hotel gegangen war, wie sollte sie ihn dann wiederfinden? Warum nahm er seine Funktionen im Völkerbund nicht wieder auf? Warum hatte er seinen Urlaub verlängern lassen? Was verbarg er vor ihr? Da war das Splendide. Aber was hätte sie tun sollen? Sie hatte doch nicht nein sagen können, nicht das Splendide, er hätte sofort begriffen. Sie stieg aus, bezahlte, streichelte den weißen Spitz und fragte, ob er schon die Welpenkrankheit gehabt habe. »Ja, Madame, er ist schon zwölf«, erwiderte der Greis mit vorpubertärer Stimme.

***

    Nachdem er sich um fünf Uhr früh plötzlich erinnert hatte, dass sie ihm in Genf erzählt hatte, sie kenne Marseille, trat er leise in ihr Zimmer und beugte sich über die Schlafende, von der ein warmer Keksgeruch ausging. Nein, sie in Ruhe lassen, sie später fragen, wenn sie wach wäre.
    »Mit wem bist du nach Marseille gekommen?«
    Sie öffnete ein Auge, dann das andere, dann blöde den Mund.
    »Ja? Was ist?«
    »Mit wem bist du nach Marseille gekommen?«
    Sie richtete sich auf, setzte sich im Bett auf und fuhr sich linkisch mit der Hand an die Stirn, mit der gleichen erschütternden Geste wie der kranke Schimpanse im Basler Zoo damals, als er mit Saltiel und Salomon dort gewesen war, der gleichen Geste wie die Zwergin Rachel.
    »Nein«, murmelte sie blöde.
    »Mit

Weitere Kostenlose Bücher