Die Schöne des Herrn (German Edition)
Spiegel, gefiel sich darin, zündete sich eine Zigarette an und seufzte. Wie sollte er mit ihr weiterleben? Nicht ein Wort, das sie nicht schon dem anderen gesagt oder von dem anderen gelernt hatte. Da der andere ja anscheinend so gebildet war, stammten eine Menge besserwisserische Wörter, die sie so liebte, bestimmt von ihm. Integration, Diskrepanz, Exemplarität, dieses widerliche Explizieren der Schulmeister, all diese Worte hatte sie von Dietsch. Jedes Explizieren würde ihm von nun an wie eine Gräte im Hals stecken bleiben. Ja, gebildet dieser Kerl. Übrigens hatte sie ihm gestern im Zug, als ihr Verhältnis noch gut gewesen war, gestanden, dass Dietsch außerdem noch eine Vorlesung über Musikgeschichte an der Universität von Lausanne hielt. Kurz, die vollendete Filzlaus. Und schlimmer noch, da waren die Gesten, die sie vor dem anderen gemacht hatte, das Liebesverhalten, das sie von dem anderen gelernt hatte. Sie hatte alles mit dem anderen getan. Sie hatte mit dem anderen gegessen, war mit dem anderen spazieren gegangen. Nie mehr mit ihr essen, nie mehr mit ihr spazieren gehen! Er kratzte sich die Stirn. Bestenfalls könnte er sie rückwärts gehen lassen, auf den Händen, die Füße in der Luft. Das hatte sie bestimmt nicht mit Dietsch getan. Aber sie ständig rückwärts gehen lassen? Jedenfalls wollte er sie nie mehr nehmen. Alles war von diesen beiden bereits getan worden. Es sei denn, sie hätten es in einem großen Korb getrieben, der von der Decke hing? Das wäre nicht sehr bequem gewesen.
»Du siehst so müde aus, komm, schlaf bei mir, gehen wir in mein Zimmer«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand.
In ihrem Zimmer setzte er sich hin, zündete sich erneut eine Zigarette an, atmete den Rauch tief ein und fühlte sich einen Augenblick lang unaussprechlich glücklich, bis die Erinnerung zurückkam. Das Schrecklichste war, dass sie mit ihm nur glanzlose, überhaupt nicht ehebrecherische Stunden verbracht hatte und verbringen würde. Und die poetische Idiotin, nachtrauernd wie alle ihresgleichen, anderswosüchtig wie alle ihresgleichen, würde unbewusst Vergleiche anstellen. Was Dietsch betraf, so würde sie sich, durch den Zauber der Ferne, nur an die schönen Stunden erinnern. Und er, dämlich, wie er war, und zum Ehemann geworden, hatte sich, indem er so viel von Dietsch gesprochen hatte, zu seinem Kuppler gemacht, seinen Charme noch verstärkt und sich eigenhändig und rückwirkend Hörner aufgesetzt. O die Tricksereien mit der Boygne! Oh, wie interessant es gewesen war, sich klammheimlich mit Dietsch zu treffen und erschlichene Nächte mit ihm zu verbringen! Und am nächsten Morgen rief die Boygne sie bei Beethovens Filzlaus an. »Liebste, eben hat Ihr Mann mich aus seinem Büro angerufen, ich habe ihm gesagt, Sie schliefen noch und ich traue mich nicht, Sie zu wecken, aber versuchen Sie ihn anzurufen, damit er nicht noch mal bei mir anruft.« Das Miststück Boygne! O unglücklicher Solal, langweiliger Hahnrei, nicht imstande, ihr erregende und erschlichene Nächte zu bieten, unglücklicher Rivale eines durch Abwesenheit glorifizierten Dirigenten! Es gibt nur ein einziges Mittel, ihn ihr zu verleiden, nämlich ihr befehlen, zu ihm nach Genf zu fahren und monatelang mit ihm zu leben. Erst dann würde er, Solal, wieder der Geliebte sein. Ja, ihr sagen, sie solle auf der Stelle nach Genf abreisen.
Doch als er wieder den Kopf hob und sie sich schnäuzen sah, rührte ihn die Bescheidenheit der nasalen Zwangsräumungen, denn sie tat es ganz diskret, was jede Wirksamkeit zunichte machte. Arme glänzende Nase, ein wenig geschwollen im Augenblick, nicht sehr schön. Arme Lider, ein wenig geschwollen von den Tränen. Er hätte sie gern umarmt, aber eingeschüchtert traute er sich nicht. Das arme kleine zerrissene Taschentuch, in das sie ihre so reizenden Entsorgungen machte. Ja, ihr ein besseres Taschentuch holen.
Als er mit einem schönen, großen reinseidenen Taschentuch aus dem Badezimmer zurückkam, näherte er sich ihr, um es ihr zu geben, und fand sie rührend. O dieser demütige und bettelnde Blick, mit dem sie zu ihm aufschaute. Doch plötzlich trat er einen Schritt zurück. Angenommen, die Hände des Dirigenten hätten es vermocht, unauslöschlich zu tätowieren, dann wäre sie jetzt blau von Kopf bis Fuß, überall blau, außer vielleicht an der Unterseite der Füße. Und sollte er etwa dazu verdammt sein, sich mit den Fußsohlen zu begnügen? Er steckte das schöne Taschentuch wieder
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