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Die Schöne des Herrn (German Edition)

Die Schöne des Herrn (German Edition)

Titel: Die Schöne des Herrn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Cohen
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voneinander erzählt hatten, und all die empfangenen und erwiderten Küsse, ja, die einzigen wahren Küsse ihres Lebens, und nachdem er sie spät in der Nacht verlassen hatte, sie mit so vielen Küssen, tiefen Küssen, unendlichen Küssen verlassen hatte, war er manchmal eine Stunde oder auch nur ein paar Minuten später zurückgekommen, o Herrlichkeit, ihn wiederzusehen, o inbrünstige Rückkehr, »ich kann ohne dich nicht sein«, hatte er zu ihr gesagt, »ich kann nicht«, und aus Liebe hatte er das Knie vor ihr gebeugt, vor ihr, die aus Liebe das Knie vor ihm gebeugt hatte, und dann wieder Küsse, sie und er andachtsvoll, wieder und wieder Küsse, echte Küsse, Liebesküsse, große verzweifelte Küsse, »ich kann ohne dich nicht sein«, hatte er zwischen den Küssen zu ihr gesagt, und er war geblieben, der Herrliche, der nicht konnte, nicht ohne sie sein konnte, war stundenlang geblieben bis zur Morgendämmerung, bis zum Vogelgezwitscher, und es war Liebe gewesen. Und jetzt begehrten sie sich nicht mehr, langweilten sich miteinander, sie wusste es wohl.
    Sie atmete Äther ein und lächelte. Wenn er auf Dienstreise gegangen war, die Telegramme, die er ihm verschlüsselt geschickt hatte, wenn die Worte zu glühend gewesen waren, o Glück des Entschlüsselns, und sie, ihre langen Antworttelegramme, Telegramme mit mehreren hundert Worten, stets Telegramme, damit er sofort gewusst hatte, wie sehr sie ihn liebte, o die Vorbereitungen für die heilige Rückkehr, die Bestellungen beim Couturier, die Stunden des Sichschönmachens, und sie hatte die Arie aus der Pfingstkantate gesungen, die Ankunft eines göttlichen Königs gesungen. Und jetzt langweilten sie sich miteinander, begehrten sich nicht mehr, begehrten sich nicht mehr wirklich, zwangen sich, versuchten sich zu begehren, sie wusste es wohl, wusste es seit langem.
    »Woran denkst du?«, fragte sie. »An nichts«, sagte er, küsste ihr die Hand und sah sie an. Letzte Nacht ihr Auftritt als kleines Mädchen, die klägliche Schelmerei, »guten Abend, lieber Onkel« zu ihm zu sagen, sich dem Onkel auf den Schoß zu setzen, mit nackten Schenkeln, ihm ins Ohr zu flüstern, wenn sie nicht artig sei, könne er sie bestrafen. O Traurigkeit, o Albernheit, und doch auch Größe in diesem grotesken Spiel der beiden, Auflehnung ihrer armen Leidenschaft gegen die Agonie, lächerliche Obszönität als letzte Zuflucht ihrer armen Leidenschaft. Um Mitternacht der Vorschlag, Ingrid zu rufen, und er war darauf eingegangen, war darauf eingegangen aus Verzweiflung, weil sie es wollte, um diesem langsamen Tod noch etwas Leben einzuhauchen. Arme Verdammte des Paradieses. Sie nahm seine Hand.
    »Liebster, willst du?«, fragte sie.
    Er drückte ihre Hand, bedeutete ihr, ja, er wolle. Da stand sie auf und ging hinaus.

CV

    In ihrem Zimmer nahm sie das Buch, das auf dem Tisch lag, öffnete es, las ein paar Zeilen, ohne sie zu verstehen, legte es wieder an seinen Platz, band die Gürtelschnur ihres Morgenrocks auf und ließ sie zu Boden fallen. Schwitzend hob sie sie wieder auf, schwenkte sie ein paarmal durch Luft, irr lächelnd, ließ sie wieder fallen und berührte ihre Wangen. Sie war es, ihre Wangen waren warm, ihre Hände konnten sich bewegen, sie konnte sie bewegen. O Liebe von mir, in mir unaufhörlich eingeschlossen und unaufhörlich aus mir herausgenommen und betrachtet und wieder zusammengefaltet und in meinem Herzen verschlossen und bewahrt. Diesen Satz hatte sie so geliebt, dass sie ihn aufgeschrieben hatte, um ihn nicht zu vergessen. Eines Abends war er in den kleinen Salon getreten, und vom Blitz so großer Liebe getroffen, waren sie plötzlich voreinander auf die Knie gesunken.
    Am Tisch sitzend, nahm sie die Tabletten aus der Schachtel und zählte sie. Dreißig, dreimal mehr als sie beide brauchten, denn der Apotheker in Saint-Raphaël hatte ihr gesagt, sie solle vorsichtig sein, denn bereits fünf dieser Tabletten seien eine tödliche Dosis. Sie legte sie zu einem Kreis und dann zu einem Kreuz. Oh, und er wartete. Beginnen, sie musste beginnen. Sie erhob sich, kratzte sich die Wangen, irr lächelnd. Ja, ins Badezimmer, ja, alle Tabletten, das ist sicherer.
    Vor dem Waschtisch öffnete sie die erste Tablette, indem sie die dünne Hülle zerriss. Als sie klein gewesen war, hatte sie immer die weiße Oblate verlangt, die unter dem Nougat klebte, es war ein kleines Wunder gewesen, denn sie war ganz von selbst in ihrem Mund geschmolzen. Sie öffnete die Tabletten, eine nach der

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