Die Schöne des Herrn (German Edition)
trinken. Diese Schweizer hatten Glück. Er ging weiter und sprach dabei zu seinem Neffen.
»Mein lieber Junge, ich habe ja gar nichts gegen die Christen, und ich habe immer gesagt, ein guter Christ ist besser als ein weniger guter Jude. Aber verstehst du, mit einer von den Unsrigen bleibst du in der Familie, du kannst über alles mit ihr reden, sozusagen wie Bruder und Schwester. Während du mit einer Christin, und wenn sie noch so charmant und sanftmütig ist, über gewisse Dinge besser nicht reden solltest, um sie nicht zu ärgern oder zu beleidigen, und außerdem würde sie niemals wie wir unsere Leiden und unser Unglück verstehen. Und selbst wenn sie charmant ist, wird es in ihren Augen immer einen kleinen Winkel geben, der dich beobachtet und vielleicht manchmal, an einem Tag, an dem ihr streitet, einen wenig liebenswürdigen Gedanken fasst, einen Gedanken gegen die Unsrigen. Sie sind nicht böse, diese Christenmenschen, aber sie täuschen sich. Sie denken schlecht von uns und glauben, sie seien im Recht, die Armen. Ich muss einmal ein Buch schreiben, um ihnen zu erklären, dass sie unrecht haben. Und obendrein kommt alle zwanzig oder dreißig Jahre, also einmal in jedem Menschenleben, eine Katastrophe über uns. Vorgestern die Pogrome in Russland und anderswo, gestern die Affäre Dreyfus, heute die große Bosheit der Deutschen und morgen Gott weiß was. Und diese Katastrophen sollte man lieber mit einer guten Jüdin überstehen, die ganz auf deiner Seite ist. Ach, mein lieber Junge, warum hast du mich fortgeschickt, ohne mir Zeit zu lassen, dich zur Vernunft zu bringen?«
In seine Gedanken versunken, ging er weiter, rieb sich die Nase und kratzte sich die Stirn. Gewiss, Sol hatte versprochen, diese Ariane in Ruhe zu lassen. Aber leider gefiel sie ihm, das hatte er gesagt. Wenn er sie also heute Abend bei diesem Diner sehen würde, so zart und blond, würde er seinen Entschluss vergessen, sie auf eine gewisse tiefe Art anblicken, ihr seine Zähne zeigen, und die Unglückliche wäre gefangen, denn er hatte das süße Blut, er gefiel ihnen. Hatte dieser Teufel nicht in seinem sechzehnten Lebensjahr eine wunderschöne große und üppige französische Konsulin entführt? Er seufzte.
»Da gibt es nur eins, eine der Unsrigen für ihn finden.«
Er klatschte in die Hände. Ja, dieses Fräulein Ariane wetteifern lassen mit einer vollkommenen israelitischen Jungfrau, die über Schönheit, Gesundheit und luxuriöse Kleidung verfügte, täglich badete und sich auf Poesie, Klavierspielen und das moderne Gleiten über den Schnee verstand. Hatte er die Kandidatin erst einmal gefunden, würde er seinem Neffen ihre Vorzüge preisen und ihm eine überzeugende Rede halten, und seine Zunge würde an Geschicklichkeit nicht dem Griffel des gewandtesten Schreibers nachstehen. Kurzum, man würde ihn ein wenig einwickeln und schnell verheiraten, und dann wäre endlich Schluss mit diesen Phantastereien!
»Auf zum Rabbiner! Schauen wir mal, was er uns anzubieten hat.«
XIV
Um zwei Uhr nachmittags nahmen Frau Deume und ihr Adoptivsohn im Salon Platz, sie in einer lachsfarbenen Untertaille und er in Golfhosen. An ihre Schuhe hatten sie abnehmbare Filzsohlen, sogenannte Parkettschoner, gebunden.
»Also, mein Schatz, wie ist dein erster Vormittag als A-Beamter im Palais verlaufen?«, fragte die knochige Dame mit dem gravitätischen Dromedargesicht, an deren Hals ein kurzer, in eine kleine Fleischkugel mündender Hautzipfel hing, der wie eine lautlose Schelle ständig hin und her pendelte.
»Sehr gut«, sagte Adrien schlicht, denn er wollte sich gelassen und überlegen zeigen. »Sehr gut«, wiederholte er, »außer dass das Schloss der Glastür meiner Bibliothek kaputt war. Eigentlich funktionierte es, aber es bedurfte jedes Mal einer Kraftanstrengung, und du kannst dir denken, wie ich den kleinen Mann von der Materialausgabe zur Schnecke gemacht habe, er hat mir auch gleich einen Schlosser geschickt. Einen A-Beamten muss man gut behandeln.«
»Gewiss, mein Schatz«, pflichtete ihm Frau Deume bei und lächelte, wobei ihre langen oberen Schneidezähne schief auf dem weichen Polster der Unterlippe lagen. »Also ich hoffe, du entschuldigst diesen armseligen kleinen Lontsch, diese paar Sandwiches sind eines A-Beamten eigentlich unwürdig, aber was soll ich machen, an einem solchen Tag habe ich andere Dinge im Kopf, dafür wirst du heute Abend umso mehr Appetit haben. (Sie schwieg plötzlich und drehte ihre Fleischkugel zwischen ihren
Weitere Kostenlose Bücher