Die schöne Diebin
besuchen. Wenn eine ihrer Freundinnen in Stockport-on-the-Medlock davon erfuhr, würde große Aufregung herrschen. Man akzeptierte, dass eine Dame ein Waisenhaus aufsuchte. Sie konnte auch einzelne Familien unterstützen, aber nur, wenn deren Wohnungen sich nicht in einem Stadtteil befanden, den zu betreten jeder sich fürchtete, der nicht zur Unterschicht gehörte.
Also musste The Cat selbst die Weihnachtsgeschenke verteilen.
Nora öffnete den Riegel, der, hinter Eleanors Kleidern versteckt, jene geheime Tür öffnete, die den Zugang zu einer winzigen Kammer freigab. Hier wurde der Besitz der Katze aufbewahrt. Sie holte ihre Halbmaske, einen Hut mit dichtem Schleier sowie einen warmen Mantel heraus und begann sich anzuziehen.
Wenig später betrat sie die Küche. Auf dem Tisch standen süße Brötchen, heißer Tee, Zucker und Milch. Das Feuer im Ofen sorgte für eine angenehme Wärme.
Alfred und seine Frau Hattie warteten schon. Sie schlossen Nora in die Arme und wünschten ihr ein frohes Weihnachtsfest. Abends, wenn The Cat von ihrem Ausflug zurückkam, würden sie noch eine Zeit lang gemütlich zusammensitzen.
Während Nora frühstückte, spannte Alfred das Pferd vor Miss Habershams geschlossenen Frachtwagen.
Sie hatte Stockport gesagt, dass er nicht mit der Kutsche kommen solle, denn das vornehme Gefährt würde unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die Menschen in den Elendsvierteln misstrauisch machen. Der Earl konnte – wenn er überhaupt am Treffpunkt erschien – neben ihrem Wagen reiten.
Die Geschenke waren bereits verstaut. Und sobald Nora ihr Mahl beendet hatte, begab sie sich in den Hof. Es war noch kälter, als sie befürchtet hatte. Hattie beschwor sie, daheim zu bleiben. Aber sie ließ sich von ihrer Mission nicht abbringen. Nachdem sie Alfreds Angebot, sie zu begleiten, höflich zurückgewiesen hatte, kletterte sie auf den Kutschbock.
Ehe sie den vereinbarten Treffpunkt erreichte, hielt Nora kurz an, band sich die Halbmaske um und setzte den mit einem Schleier versehenen Hut auf. Das musste genügen, damit Stockport sie nicht erkannte.
Er wartete bereits auf seinem kräftigen Hengst, der unruhig tänzelte. Ein warmer Reitmantel, Handschuhe und ein Biberhut schützten ihn vor der Kälte. Um den Hals hatte er einen dicken Wollschal geschlungen. Er sah so gelassen aus, als stürze er sich jeden Tag in ein wildes Abenteuer.
Nora war inzwischen klar geworden, dass es nicht mutig, sondern leichtsinnig gewesen war, den Earl zu diesem Ausflug aufzufordern. Unterwegs würde sie kaum etwas unternehmen können, wenn er sie zwang, ihre Identität preiszugeben. Es würde ihm ein Leichtes sein, ihren Schleier zurückzuschlagen und ihr die Maske vom Gesicht zu reißen. Ihr Schutz bestand einzig und allein darin, dass ein echter Gentleman so etwas niemals tun würde.
„Guten Morgen und frohe Weihnachten!“, rief er ihr entgegen. Seine Stimme klang erstaunlich fröhlich. „Ich hatte angenommen, wir würden zusammen in die Stadt reiten.“
„Ich muss Lebensmittel und Geschenke irgendwie transportieren.“
„Dann gestatten Sie mir, die Zügel zu nehmen. Hinter diesem dichten Schleier können Sie doch kaum etwas sehen.“ Er schwang sich vom Pferd, band das Tier hinten am Wagen fest und kletterte zu Nora auf den Kutschbock.
Plötzlich war er ihr sehr nah. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass er es vorziehen würde zu reiten. Jetzt aber saß er so dicht neben ihr, dass sein Oberschenkel den ihren streifte und sein Arm den ihren berührte. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie wunderbar es gewesen war, mit ihm zu tanzen und seinen kraftvollen männlichen Körper zu spüren. Sie schluckte.
Um ihre Verlegenheit zu verbergen, begann sie die Decken zurechtzuziehen, die sie vor der Kälte schützen sollten. Eine breitete sie sorgfältig über ihre Beine. Die andere reichte sie Stockport. So würden zwei zusätzliche Lagen Stoff sie und ihn trennen.
Er machte ihren Plan zunichte. „Es ist wärmer, wenn wir die Decken gemeinsam nutzen“, erklärte er. „Ich bin sicher, sie sind groß genug.“ Zum Beweis legte er sie sich und ihr über die Knie.
Was sollte sie sagen? Es wäre albern gewesen, sich gegen seine Fürsorglichkeit zur Wehr zu setzen. Aber sie wusste schon jetzt, dass die Fahrt nach Manchester eine Qual werden würde. Viel zu deutlich spürte sie Stockports Oberschenkel. Viel zu intim erschien ihr dieser Kontakt.
Himmel, was habe ich mir
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